„Magnet“-Musikfestival in Wiesbaden: Innovativer zurückblicken

In Wiesbaden überzeugt das erste „Magnet“-Festival.
Innovative Musik“ hat sich, einen weiten Horizont öffnend, das neue Festival „Magnet“ in Wiesbaden zum Programm gemacht. Eines jedenfalls hatte an den drei Tagen im Kulturpark am Schlachthof keinen Platz: konventionelle Spielarten des modernen Jazz. Innovativ? Avantgarde? Traditionsbildung ist selbstredend auch im zeitgenössischen improvisatorischen Musizieren – denn das ist es, worum es hier geht – seit Jahrzehnten schon manifest. Gleichwohl zielt der Anspruch vieler Musikerinnen und Musiker fortlaufend auf eine Arbeit am Fortschritt. Selbst wenn es einer im Krebsgang sein sollte.
Die estnische Pianistin Kirke Karja etwa beschäftigte sich am ersten Abend in der Skaterhalle auf das Großartigste mit Paul Hindemiths Kontrapunktstudienzyklus „Ludus tonalis“ (1942) in einem steten Schwanken zwischen Textnähe und Freizügigkeit. Von einer irisierenden Faszinationskraft die Erstbegegnung zwischen Evi Filippou und Jim Hart an Vibraphon, Marimba und Perkussion in komplexer Verschränkung gegensätzlicher Tempi. Das Schweizer Quartett The Great Harry Hillman Band – mit Nils Fischer, Bassklarinette; David Koch, E-Gitarre; Samuel Huwyler, E-Bass und Dominik Mahnig am Schlagzeug – praktiziert eine weiträumige exzessiv-brachiale Kollektivmusik ohne solistische Exkursionen in einer ungeheuren Spannung.
Die Krea (für Kreativfabrik) mit ihrer Jazzkelleratmosphäre halbwegs leergespielt hatte das Duo um die dänische Bratschistin, Elektronikmusikerin und Sängerin Astrid Sonne und Vanessa Bedoret an Violine und E-Gitarre mit seiner Mischung aus lieblich-harmlosem Popsong, Dancebeats und aufgesetztem Avantgardefusel. Und auch die drei Frauen vom britischen Vokaltrio Skylla (plus extremwummrigem E-Bass) brachten nicht mehr als kunstvolle vokalimprovisatorische Langeweile auf der Basis von Folkmelodien zuwege.
Recht ansehnlich hingegen das britische Trio Still House Plants um die bluesverwurzelt improvisierende Sängerin Jessica Hickie-Kallenbach: eine Art dekonstruktivistische Ausgabe von Ma Rainey, Bessie Smith & Co. Mit dem Griff in die Saiten erschließt die Belgierin Marlies Debacker neue Klangwelten auf dem Klavier, wobei sie momentweise aber auch dem Impressionismus eines Debussy nahekommt.
Eine sichere Bank und hochverdient mit frenetischem Jubel bedacht der englische Trompeter Peter Evans, der mit fantastischer technischer Finesse und Kühnheit die Grenzen seines Instruments weitet. In einer ganz anderen Weise tut das die junge Afrobelgierin Farida Amadou auf dem E-Bass, in erster Linie perkussiv und klangwerkerisch schroff.
Der Schwerpunkt galt dem Briten Dan Nicholls. Als spektakulär verquer irrlichternder Electronica-Soundwizard schlug er im Trio mit dem grandiosen Schlagzeuger Julian Sartorius und der visuellen Künstlerin Lou Zon hochoriginell in die 90er-Jahre-Warp-Kerbe. Eine weitere Attraktion des elektromusikalischen Teils waren die Waliserin Elvin Brandhi (auch Gesang) und der Deutsche Ludwig Wandinger (auch Schlagzeug) mit einem düsteren Schrei- und Sampler-Horrortrip von dramatischer Wucht.
Die Band Y-Otis um die beiden Schweden Otis Sandsjö, Saxofon, und Petter Eldh, Bass und Synthesizer, sowie erneut Nicholls an den Keyboards und Tilo Weber am Schlagzeug schien quasi wie eine Hinleitung zur DJ-Clubnacht am Samstag platziert mit ihrer avanciert-süffigen Funkyness. Eher fade hingegen der Musik/Bild-Ambient in einem Duoauftritt Nicholls’ mit Lou Zon.
Herzerfrischend druckvoll in einem durchaus althergebrachten Free-Stil die dänische Altsaxofonistin Mette Rasmussen mit ihrem famosen Trio North um den Bassisten Ingebrigt Håker Flaten und Olaf Moses Olsen am Schlagzeug. Noch einmal das Stichwort Innovation: knietief in einer retroavantgardistischen Tradition (Albert Ayler) steckt das Quartett um den portugiesischen Trompeter Luis Vicente – John Dikeman, Tenorsaxofon; Luke Stewart, Bass; Onno Govaert, Schlagzeug – mit seinem prächtigen kollektiven Powerplay. Da tut’s eben auch eine frappierende Ungestrigkeit.
Ein vom Jazz her bekanntes Phänomen auch hier: Überwiegend Grauschöpfe im Publikum, beträchtlich höher der Altersdurchschnitt als auf der Bühne. Wie auch immer: Seine Raison d’être hat dieser erfreuliche Neuzugang in der Festivallandschaft in jedem Fall bewiesen.