Sie machten es nicht nur mal sechs Monate lang

Aber in den Juni-Tagen vor 50 Jahren waren die Kinks, die die brave Beatmusik durch einen Stromstoß erschüttert hatten, überhaupt nicht mehr unbekümmert.
Mitte 1965 waren die Kinks ganz bestimmt auf dem aufsteigenden Ast. Aber konnten sie sich sicher sein? Stellten die vier Jungs, weil sie noch ein wenig unsicher waren, bereits kurze Zeit später die Frage, wo die guten Zeiten abgeblieben waren: „Where have all the good times gone“? Wer, mit Anfang 20, stellt die Frage nicht.
Aber was war das für eine Frage, eine bange oder eine kokette, wo doch auf dem Ast, wenn man die Entwicklung auf ihm kommerziell sah, noch kein Ende in Sicht war. Wahrscheinlich konnte man die Frage, mit der vorausgeschaut wurde, kaum früh genug stellen. Die Kinks taten es, und nicht ein jeder war bereits 20.
Sie ließen nicht locker
Und das Quartett ließ nicht locker: Wo waren die guten Zeiten hin? So sang die Band im Chor, nachdem die Solostimme von einem bisher unbekümmerten Dahinleben berichtet hatte. Nun, ein solches Leben war ja kein Beichtgeheimnis. Und auch mit der Frage ging der Chor, sie immer wieder wiederholend, an die Öffentlichkeit. Ja, von der Frage, während die Gitarre aufs Grobe komm raus bearbeitet wurde, war der Chor überhaupt nicht mehr abzubringen.
Das war der Sinn des Refrains, immer wieder seine Aufgabe: dass er nicht locker ließ. Und er wäre wahrscheinlich bis ans Ende aller Tage nicht eingestellt worden, wenn dem Song nicht nach zwei Minuten, 49 Sekunden der Stecker gezogen worden wäre. Irgendwann fiel in diesem knapp bemessenen Zeitrahmen der Satz, dass die Zeit dann doch auf Seiten des Song-Ichs gewesen sei.
So waren die Kinks. Sie besangen die Widersprüche, sie dachten in Widersprüchen. Sie sprachen das Wort Dialektik nicht aus, sie kannten es vielleicht nicht einmal. Aber sie nahmen die Dialektik auf eine un-populäre, durchtriebene Weise ernst.
Alles gut, alles fein!
Dass alles gut sei, behauptete ein Song im hüpfenden Rhythmus. Alles fein! Allerdings war der Optimismus, der auf das Schlagzeug gedroschen wurde, von einer irrwitzigen Heftigkeit. Wer sollte an eine dermaßen verkrampfte Zuversicht glauben? Ray Davies als Sänger und Gitarrist, sein jüngerer Bruder Dave an der Leadgitarre, ebenfalls Sänger, Peter Quaife am Bass und Mick Avory am Schlagzeug machten bittere Texte zu Melodien, die sehr angenehm sein konnten oder sehr garstig, in dieser Hinsicht herrschte die Freiheit der Gleichheit der Stilmittel.
Da wollte nicht jeder folgen. So dass die Kinks, im Juni 1965 eingeladen in die USA, ausgerechnet an die Bosse der amerikanischen Musikgewerkschaft gerieten. Wie schon ein Jahr zuvor bei den Beatles und den Rolling Stones stand auch die US-Tournee der Kinks im Ruf der „British Invasion“. In diesen Tagen ist es fünfzig Jahre her, dass ein Gewerkschaftsfunktionär der amerikanischen Musikindustrie den Kinks nicht nur in einem übertragenen Sinne den Krieg erklärte. Verglich er doch, so wird es immer wieder gern erzählt, den Aufschlag der Gruppe auf amerikanischem Boden mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour. Das war nicht witzig gemeint, und was in diesen Tagen so etwas wie ein absurd-verkehrter Kommentar zum aktuellen Freihandels-Abkommen TTIP wirkt, führte vor einem halben Jahrhundert zu wüsten Beschimpfungen, tatsächlich zu Schlägereien.
Überhaupt wurde die US-Tournee der Band aus London zu einem Desaster, auch wegen der immer wieder miserablen musikalischen Verfassung der Gruppe. Das Einreiseverbot, das den Kinks nach ihrer Ausreise hinterhergeschickt wurde, wurde mit (sexuellen) Eskapaden und Randale begründet – Vorwürfe, mit denen die beargwöhnte Konkurrenz für die amerikanische Popindustrie bemäntelt wurde.
Hatten sie sich etwa verausgabt?
Bis Juni 1965 hatte die Band in zehn Monaten 162 Gigs hinter sich gebracht, seit ihrem Debüt sechs Singles aufgenommen, zwei LPs – hatten die immer ein wenig dürr aussehenden Jungs sich verausgabt?
Vielleicht war Stress für sie der Grund, bereits im Oktober ‘65 über die guten alten Zeiten nachzudenken. Allerdings war es dann doch nicht so sehr selbstbezüglich, wie man hätte annehmen können, ging es doch in dem Song um die Selbstgefälligkeit eines von Party zu Party ziehenden Hedonisten – also doch um die Kinks? Auf jeden Fall um den stumpfsinnigen Konformismus eines Ravers.
Später einmal meinte Ray Davies in einem Interview, und auch das war ein ziemlich gut abgezirkelter Satz: „Es war eine Zeit, die perfekt choreographiert war – vom Schicksal.“ Das berühmte Swinging London wurde in den Songs der Kinks zu einer immer wieder bissigen Choreographie über die britische Bürgerlichkeit. Der honorige Mann, der sich einem Song in aller Öffentlichkeit spreizte („Well Respected Man“), war weit davon entfernt, eine ehrenwerte Person zu sein.
Und weil Ray Davies es sang, musste er seine Verachtung diesmal nicht, wie so oft, dreckig hinrotzen. Näselnd wie ein britischer Snob, ließ sich der Abrechnung mit der unnoblen Natur der britischen Klassen(kampf)gesellschaft keinerlei Artikulationsschwäche nachsagen. Sie drückte sich ja in ihrem eigenen Idiom aus.
Die vier Kinks waren sich wohl von Anfang an, und dieser Anfang wird auf den 4. August 1964 datiert, ihrer stets mehrdeutigen Möglichkeiten sicher. Schon der Name war Programm, denn durchaus nicht astrein war ja das Adjektiv „kinky“, worauf sie ihren Namen bezogen. Anstößig, so konnte man es durchaus verstehen, denn schräg, spleenig wäre zu wenig gesagt. War es übertrieben, das, was sie gelegentlich besangen, unanständig zu nennen. Waren die Figuren, die sie zu Wort kommen ließen, nicht alle neben der Spur?
Rote Samtjacketts, eine anstößige Wahl
Anstoß erregten die Kinks bereits mit ihren Samtjacketts, schon weil sie rot waren – bissige Anspielung auf den englischen Dresscode bei der entsetzlichen Fuchsjagd. Es steckte hinter dem poppigen Zitat die blanke Persiflage. Aber war es womöglich eben die Parodie, die die Band so populär werden ließ, weil die Zeit prädestiniert schien zum Spott? Kein la-la-la war harmlos. Das ya-ya-ya in einem Kinks-Song war arglistige Täuschung. Wenn es vor einigen Jahren in einem Booklet zu einer wieder mal „ultimativen Collection“ hieß, London oder die Insel hätten ihre „halcyon days“, ihre glücklich-unbeschwerten Tage erlebt, dann war das, wenn man den Kinks heute, 50 Jahre später, zuhört, ultimativ unzutreffend.
Mitte 1965, nach gerade einmal neun Monaten eine feste Größe im britischen Pop, empfanden sich die Kinks als eine ziemlich wackelige Größe. Falsche Verträge, das US-Desaster, trotz ihrer Chartstürmerei durch die zweite Hälfte der 60er Jahre. Sie geschah auch durch die Vorwegnahme eines Kraftkerle-Rock, denn was sie anstellten, war bereits häufig richtig heavy, und als dann eine Dekade später der Punk anfing zu stürmen und sich aufzugipfeln, war rasch klar, dass er sein Basislager bei den Kinks gehabt hatte.
Denn alles, so wird’s erzählt, fing an mit einem ruppig-ungebärdigen Riff. Überhaupt ist der Song als ein, wenn nicht als der Schlüsselmoment der Popgeschichte beschrieben worden, wobei der Pop ja nichts auslässt, keinen Superlativ. Aber es war wohl wirklich so, dass die Händchen haltenden Beatmusikjahrgänge den gierigen Rock entdeckten. Die Metamorphose vom Netten zum Bösen war eingeleitet, und wenn das einigen Bands nachgesagt wird, dann war es ohne Frage so, dass die Kinks den neuen Ton im August 1964 einführten.
Anstelle der Beatles mit „I Want To Hold Your Hand“ hieß es: „You Really Got Me“ – Zehntausende brauchten das jetzt, wie der Spitzenplatz in den britischen Charts klarmachte. Es elektrisierte eine Radiohörergeneration wie ein Stromstoß, die Jungs aus London brachten nicht nur Anhänger hinter sich, sondern schlossen eine Generation zu einem Kreislauf aus wilden Wünschen und illusionslosem Vorwärtsdrang zusammen. Diese Jahrgänge wollten es wissen.
Ein „Tristan-Akkord“ der Rockgeschichte
Irgendwann, später, als ein wenig Ruhe eingekehrt war über das Riff, hieß es, dass mit dem Barrégriff über die sechs Gitarrensaiten nicht nur ein besonders zwielichtiger G-Akkord angeschlagen wurde. Sondern, und das machte wiederum nicht weniger wuschig, ein „bisexueller Akkord“. So etwas wie ein „Tristan-Akkord“ der Rockgeschichte, dem Tongeschlecht nicht eindeutig zuzuordnen? Wie auch immer, das Androgyne wurde vorgespielt, ausgespielt, vorgelebt, ausgelebt, schillernd vieldeutig in „Lola“.
Dass das Changierende jedoch ein Gleißen auf schwankendem Grund war, musste man den Kinks nicht erst sagen. In „Dead End Street“ war die Zimmerdecke einsturzgefährdet, in den Küchenwänden steckte der Schwamm. Ohne Job kein Geld. Der Song ist der lakonische Bericht vom Zweizimmerappartement im zweiten Stock – eines kam zu anderen, ausdrücklich war von der Zweiklassengesellschaft die Rede, die Kritik daran unmissverständlich. Die Posaune zollte dem immer wieder ausgestoßenen Refrain „Dead End Streat“ Beifall, so sinnlos wie höhnisch. Hey, hieß es, ein Chor klatschte, so bissig wie atemlos.
Im Nachhinein wurden diese zwei, drei Jahre verklärt, in der Beziehung waren Kinks-Booklets ganz weit vorne weg, wenn es hieß, die Epoche des Swinging London sei eine glückliche Zeit gewesen, man denke nur an „Sunny Afternoon“, so etwas wie eine Nr.1-Hymne unter den Hymnen im Sommer 1966, als England gegen Seeler und Haller, Beckenbauer, Weber und Overath, Held, Emmerich und Tilkowski in Wembley den World-Cup holte.
Dabei war auch „Sunny Afternoon“ definitiv sarkastisch. Dass dazu der Bass die Tonleiter abstieg wie die ultimative Unschuld, war durchtrieben. Das Song-Ich mochte ja noch so sehr vom Abhängen träumen, vom Bierchen zischen. Tatsache war, dass der Steuereintreiber vom Müßiggänger die „letzte Knete“ eingezogen, dass die Freundin den ständig Besoffenen und Gewalttätigen verlassen hatte, so dass der Song der Appell war, einem Kerl aus der Klemme zu helfen. Doch war der Kerl nicht ein Dandy? Dass er tatsächlich meinte, es gebe keine zwei vernünftigen Gründe, ihn so zurückzulassen, in seiner üblen Verfassung, zeigte, wie sehr ihn das Selbstmitleid gepackt hatte, wie kalkuliert es war – und wie sehr die Kinks mal wieder einen äußert schillernden, vieldeutigen Song geschrieben hatten.
Wieso eigentlich hatten? Natürlich ließe sich die Geschichte der Kinks ins Präsens setzten, ihr Wirken als endlose Gegenwart erzählen. Richtig ist dennoch der Satz, dass erst die Kinks neben den Beatles, den Rolling Stones und den Who das vierblättrige Kleeblatt des frühen Britpop perfekt machten. Zu diesem Zweck zeigten sich die Kinks schrill und cool, und Dave Davies auf den frühen Fotos der Kinks als der Coolste, und unter den vier unendlich gelangweilten Gesichtern hatte er immer auch das blasierteste.
Immer ging es um Travestie, auch die Kinks spielten (mit) Rollen, so fügte es sich, dass ihre Songs Rollenlyrik waren. „Waterloo Sunset“, einer ihrer berühmtesten Songs, war ein Rollenprosagedicht, in dem sich ein Ich den Trubel der Waterloo-Station, das Gewirr der Weltstadt im beschaulichen Sonnenlicht auf Distanz hält. Die impressionistische Beschwörung war zugleich ein alles andere als unbeschwerter Sozialreport. „Chilly“, wie besungen, war das nie.
Ein Chor, der nicht bei Sinnen sein konnte
„Death Of A Clown“, die todtraurige Ballade, wurde aus dem Hintergrund besäuselt von einem mit viel Kirchenhall versehenen Chor, der nicht bei Sinnen sein konnte. Dagegen opponierte Davies nuschelnd, wie durch eine hohle Tröte. Und ein treibender Rhythmus trieb das Beschwipste einer Kirmesmusik auf eine höhnnische Spitze. Wer mitsang und heute noch gerne bei der verführerischen Vaudeville-Musik gerne mitsingt (la-la-la, yeah-yeah-yeah), tappt in eine böse Fallgrube. Seitdem die Davies-Brüder die Geschichte vom Clown, der sich den nächsten Auftritt abschminkt, erstmals erzählten, haben die Kinks Hundertausende in die Fallgrube tapsen lassen, bis über beide Ohren.
Beim Hören der Kinks bleibt bei allem unbekümmerten Vergnügen überaus Vorsicht geboten. Angefangen bei feierlichen Cembaloklängen, sie wirkten als Vorboten billigen Barrelhousegedudels. Als würde Big Ben von einem ungehobelten Gesellen geläutet, nämlich mit einem barbarischen Gitarrenakkord, war dieser das Intro zur Parodie auf die Carnaby-Street-Ausgelassenheit.
Auch das war garstig gemeint – und doch, wenn man sich etwas Gutes tun will, dann beschaffe man sich für rund 40 Euro die Box „the anthology 1964 bis 1971“, es sind darin fünf Kinks-CDs, auf jeder etwa 75 Minuten gespeichert, auch „Lazy Old Sun“. Es wurde geschrammelt, gedudelt und psychedelisch rumgeduselt. Himmlische Harmonien, Tablas wie Sphären-Klänge. Aber was waren das für Harmonien? Verzerrungen durch rückwärts gespielte Modulationen. Das machten ab Mitte der 60er Jahre gewiss einige Bands.
Eine Sonnenscheibe hat sonst keine Band fertiggebracht
Es hat bis in diese Tage gebraucht, bis mir aufgegangen ist: Die gute alte, sich hinfläzende Sonne ist eine Single-Scheibe, auf der einiges rückwärts gespielt wird. Eine Sonnenscheibe hat sonst keine Band fertiggebracht. Und so war denn dieser nicht eingängige, aber geniale 3:11 Minuten lange Sonnen-Song so etwas wie eine kleine kopernikanische Wende unbeschwerter Weltbetrachtung, und das heute endlich einmal nachzutragen, ist ja durchaus zwiespältig.
Denn ausgerechnet der Pop, der schon morgen nicht mehr wissen will, was gestern war, weil es für ihn nur ein Heute (Refrain: heute, heute) gibt, ist dennoch seltsam fixiert auf Datierungen. Ist unbedingt zu haben für Zäsuren. Der Pop hat eine Datierungsmacke, die so sentimental wie pathetisch ist, ausgerechnet die Hier-und-Jetzt-Fixierung fahndet immer wieder nach dem Tag, an dem es auch für ihn ein Davor und Danach gab.
Kinky, ausgefallen wie die Kinks waren, hatten sie auch für eine solche Nostalgie eine äußert nüchterne Antwort parat, wenn Ray Davies vor genau elf Jahren über das Wort kinky meinte: Abartig, pervers, billig, spleenig? „Wir dachten, wir machen das sechs Monate lang, deshalb war es uns egal.“