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Louis Sclavis „Les Cadences du Monde“: Von der Macht des Melos

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Von: Hans-Jürgen Linke

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Louis Sclavis.
Louis Sclavis. Foto: Damien Jacobs © Damien Jacobs

Louis Sclavis’ Quartett-Album „Les Cadences du Monde“.

Schon die Besetzung des Quartetts deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um eine vertraute Form von zeitgenössischem Jazz handelt: Außer dem Klarinettisten Louis Sclavis gibt es eine Cellistin (Annabelle Luis) aus dem Segment der Barockmusik, einen Jazz-Cellisten (Bruno Ducret) sowie einen Perkussionisten (Keyvan Chémirani), der Zarb und Daf, also Bechertrommel und Schellentrommel, überaus akzentuiert und klangwirksam spielt. Kein Drumset, kein Bass, kein Saxofon, kein Klavier weit und breit.

Bandleader Louis Sclavis hat sich für seine Musik von Bildender Kunst inspirieren lassen – nicht zum ersten Mal übrigens: für das herausragend intensive „Napolis Walls“ lieferten vor zwei Jahrzehnten die Wandzeichnungen von Ernest Pignon-Ernest Anlässe. Diesmal sind es Fotografien und thematisch ausgearbeitete Text-und-Foto-Bücher des belgisch-französischen Fotokünstlers Fréréric Lecloux. Sie stellen das Material und die Reflexionsweisen der Welt, die das Album „Les Cadences du Monde“ zum Klingen bringt, zur Verfügung.

Die Abnutzung der Welt

Lecloux selbst nimmt Bezug auf den vor 25 Jahren verstorbenen Schweizer Reiseschriftsteller Nicolas Bouvier und dessen Buch „L’usage du monde“, die Erfahrung der Welt. Lecloux aber nennt seinen Hommage-Band „L’usure du monde“, die Abnutzung der Welt. Aber es ist nicht der aktivistisch-rebellische Zorn der „Letzten Generation“, der die Musik prägt, und auch keine unerlösbar triste Weltuntergangs-Stimmung.

Dass die Grundfarbe der Musik unverkennbar melancholisch akzentuiert ist, ist möglicherweise vor allem altersangemessen, Louis Sclavis wurde vor wenigen Wochen siebzig Jahre alt. Im Vergleich zu früheren seiner Werke fehlt in den „Cadences“ das lebensfroh-tänzerische Moment, der frei daher treibende rhythmische Kooperationsgeist, die überschäumende Freude am Klang, an überraschenden Skalen, Melodien und Phrasierungen.

Das Album:

Louis Sclavis: Les Cadences du Monde. JMS/Galileo.

Gleichwohl handelt es sich hier nicht um ein Requiem, und die Qualitäten, die im Vergleich zu älteren Arbeiten nicht an Bord sind, fehlen nicht. Louis Sclavis hat den Focus auf eine tiefgreifende Arbeit an der Macht des Melos gerichtet. So kehrt eine Ruhe ein, die keine Idylle ist, sondern voller Leben, voller Freude an Schönheit, Vielstimmigkeit und Intensität steckt.

Schläge auf die Zarb

Die Polyphonie, die sich auf diesem besonderen Quartett-Album ausbreitet, verteilt die hörende Aufmerksamkeit ungemein egalitär. Dezente Schläge auf Zarb und Daf binden das gleiche Maß an Aufmerksamkeit wie die hingebungsvoll differenzierten und hoch artifiziellen Artikulationen Sclavis’ an Klarinette und Bassklarinette. Die subtile rhythmisch-melodische Arbeit des Cellisten strahlt die gleiche Wärme aus wie die schwebenden Kantilenen der Cellistin.

Das Quartett folgt einem sorgsam ausgearbeiteten und sensibel abgestimmten Konzept von Kammermusik. Dessen improvisatorischer Impetus führt immer wieder zu vitalen Auflösungstendenzen festgefügter Formen. Trotzdem bleiben alle vier nahe beieinander. Und vielleicht ist das die Botschaft dieser Musik, die den Takt, das Tempo und die Schlagzahl der Welt zum Thema macht: dass es am besten ist, wenn man vielstimmig beieinander bleibt.

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