Das letzte Blatt am Baum

Mit dem bewegenden "Whistle Down The Wind" beschließt die Folksängerin Joan Baez ihre Plattenkarriere.
Vor kurzem ist Joan Baez, die man nach wie vor Protestsängerin nennt, 77 Jahre alt geworden. Von einem Reporter wurde sie gefragt, ob sie nach all den Kämpfen in ihrem Leben mit sich und der Welt nun im Reinen sei. Die Songs ihres neuen Albums würden danach klingen. „Es ist doch heutzutage so“, hat sie dem Mann geantwortet, „du kannst dich erschießen oder du kannst deinen Frieden machen. Ich habe mich für Letzteres entschieden.“
Daraus spricht die Weisheit einer Frau und Künstlerin, die in ihrer langen musikalischen Laufbahn schon öfter die richtigen Songs zur richtigen Zeit gesungen hat. Diesmal ist es „Another World“, im Original von Antony and the Johnsons als dramatische Pianoballade vorgetragen. Joan Baez singt das Lied, dessen Gedanken um den Abschied vom Leben kreisen, allein zur akustischen Gitarre mit einer existenziellen Dringlichkeit, die einem an die Nieren geht.
Die größte Provokation in einer Welt aus Lärm ist Stille. Und so hat sie sich für ihr erstes Studioalbum seit zehn Jahren, das zugleich das letzte ihrer sechs Jahrzehnte währenden Karriere sein dürfte, für ein filigranes Klangbild entschieden, das die abgeklärte, um nicht zu sagen sentimentale Grundstimmung ihrer Lieder sehr schön aufnimmt.
Produziert wurde „Whistle Down The Wind“ von Joe Henry, der als Musiker und Produzent höchstes Ansehen genießt und zuletzt zum Beispiel für Bonnie Raitt, Allen Toussaint, Billy Bragg und Hugh Laurie tätig war. Mit seinem stilsicheren Gespür für die Besonderheit seiner Klienten gelingt es Henry dabei immer wieder, durch absolute Reduktion das Wesen ihrer Kunst herauszuarbeiten. Im Falle von Joan Baez ist es die Stimme. Eine Stimme, die nun längst nicht mehr mit dem Vibrato der frühen Jahre gesegnet ist – oder eben gezeichnet.
Es war ja oft auch anstrengend, ihrem enervierenden Powersopran zu folgen. Den hohen Ton der zornigen, jungen Frau trifft Joan Baez längst nicht mehr, was ihr bei Konzerten nicht nur Probleme mit dem vertrauten Repertoire bereite, wie sie sagt, sondern sie praktisch dazu gezwungen habe, für ihr Album das Singen in einer tieferen Tonlage noch einmal völlig neu zu lernen.
Die Mühe hat sich gelohnt. „Whistle Down The Wind“ ist nun so etwas wie der Schlussstein einer Kathedrale aus Songs, die sie in den vergangenen 25 Jahren mit den insgesamt fünf Alben ihres Alterswerks errichtet hat. Sie hatte sich dazu noch einmal zurück nach Nashville begeben, wo Anfang der 70er Jahre Meisterwerke wie „Blessed are …“ (mit dem Hit „The Night They Drove Old Dixie Down“) entstanden waren.
Das Material, auf das sie bei den neuen Aufnahmen zugriff, stammt zum größten Teil von Songwritern des Alternativ-Country, von Leuten wie Mary Chapin Carpenter, den Indigo Girls, Ryan Adams und zuletzt Steve Earle, dessen politischer Furor seiner musikalischen Intelligenz nicht nachsteht und bei dem sich Joan Baez gut aufgehoben fühlte.
Mit ihrem neuen Album, das in Los Angeles eingespielt wurde, beruft sich Joan Baez auf die Folkmusik, der sie im eigentlichen Sinne ihre künstlerische Reputation verdankt. Das Protestelement kam bei ihr später hinzu, bis es alles andere dominierte. Bevor sie sich als Friedensaktivistin und Menschenrechtlerin profilierte, die es schon 1962 auf das Cover des „Time“-Magazins brachte, hatte sie als Siebzehnjährige in den Studentenclubs von Cambridge englische Folkballaden gesungen. Nun, sechzig Jahre später, bringt sie den Folksong nach Hause.
Ein Gespür für große Lieder hatte sie immer, auch wenn die wenigsten davon aus ihrer Feder stammen. Auch auf dem neuen Album sind wieder ausschließlich Coversongs versammelt, zum Teil extra für sie geschrieben. Von Tom Waits und Kathleen Brennan stammt nicht nur das Titelstück, sondern auch das wunderbare „Last Leaf“, in dem sich Joan Baez tatsächlich so etwas wie Erschöpfung gönnt: „Es heißt, ich hätte endlos Kraft, aber ich bin schon seit Eisenhower hier und habe selbst ihn überlebt. Ich bin das letzte Blatt am Baum.“ Aber die Herbststürme, singt sie sich Mut zu, würden sie schon nicht wegwehen. Der Songwriter Josh Ritter widmete ihr das von einem zarten Orgelton umflorte „Be of Good Heart“, in dem Joe Henrys Produzentenqualitäten aufs Schönste spürbar werden. Er kreiert eine Art Kammerfolk mit streichelndem Schlagzeug und leise plinkernden Gitarren.
Von Josh Ritter stammt auch der Song „Silver Blade“, mit dem Joan Baez einen weiten Bogen zurück zu „Silver Dagger“ schlagen möchte, dem ersten Lied auf ihrem 1960 erschienenen Debütalbum. Der letzte Song auf ihrer wahrscheinlich letzten Platte trägt den Titel: „I Wish the Wars Were All Over“. Ich wünschte, alle Kriege wären vorbei. Am Ende bleibt eine fromme Hoffnung.