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Le Millipede: „Legs an Bird“ – Schlagschwirl und Posaune

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Drum singe, wem Gesang gegeben, hier gewiss einem Rohrschwirl.
Drum singe, wem Gesang gegeben, hier gewiss einem Rohrschwirl. © Imago

Einfach eine Vogelplatte: Mathias Götz alias Le Millipede mit seinem Album „Legs and Birds“.

Fangen wir an mit einer umgekehrten Triggerwarnung, liebe Genossinnen und Genossen: Leute mit Punksozialisation, Ökoaversion und begründeten Ressentiments gegen anything GRÜN, bitte nicht abschalten, nur weil es jetzt um das liebliche Zwitschern von Teichrohrsänger, Mittelmeermöwe, Sumpfrohrsänger, Heidelerche und Singdrossel geht, nicht zu vergessen der Bluthänfling. Genauer gesagt, werte Naturromantikallergiker und -innen, hier kommt die dringende Empfehlung: hört euch ein Album mit Vogelstimmen an, es wird euch guttun, nicht esoterisch, eher schon erkenntnistheoretisch und –praktisch, umso mehr, wenn ihr in der Lage seid, euren Brass auf Vögelsingerei produktiv mit eurem Faible für Posaunen zu versöhnen, wie Mathias Götz das getan hat, der sich zu diesem Zweck Le Millipede nennt, Tausendfüßer.

Ja, nomen est... Anders gesagt, „Legs and Birds“ von Le Millipede ist das Album zur Sekunde, auch und gerade für tierscheue Leute wie mich, die ein Rotkehlchen nicht von einer Blaumeise und diese nicht von einem Flamingo unterscheiden können.

An dieser Stelle wäre ein musikalisches Intermezzo angebracht: „Flieg, Rotkehlchen flieg“ croont teutonisch-bajuwarisch Michaela Melián (bekannt von der Münchner Band FSK) mit den Ex Versions, das englischsprachige Disco-Original der Silver Convention flog 1975 von München aus um die Welt, „Fly Robin Fly“. Weiter mit Andreas Doraus „Blaumeise Yvonne“ hin zu den ungezählten Elogen auf den Pretty Flamingo, ob von Manfred Mann oder Todd Rundgren.

Aber zurück zu „Legs and Birds“ von Le Millipede. Das ist der Containername des tieraffinen Posaunisten, Multiple-Vokalisten und Vogelstimmensammlers Mathias Götz. Der stammt eigentlich aus dem Kraichgau, ist aber seit Jahren in Bayern zu Hause unter Geistes- wie Soundverwandten im Zeichen der Münchner Freiheiten, die Rede vom Biotop läge hier nahe vor lauter Natur, wäre aber zu verklärend, idyllisierend. Von Münchner Freiheiten profitieren nicht mehr ganz junge Musikleute, nein falsch, Münchner Freiheiten haben sich über die Jahr(zehnt)e nicht mehr ganz junge Musikleute erkämpft, die man der Einfachheit halber mit dem dehnbaren Qualitätsstempel The Notwist-Umfeld versehen könnte. Leute, die mehr oder weniger unverkäufliche Musik – was jetzt per se noch kein Qualitätsmerkmal ist – auf in Bayern ansässigen Labels wie Alien Transistor, Hausmusik, Gutfeeling oder Dhyana Records an wenige Menschen verkaufen, die nicht bloß außerordentliche Handarbeit (Stoffbahnen-Cover von Elisabeth Forster, orangetransparentes Vinyl) zu schätzen wissen, sondern auch, bevor das hier unter Manufactumverdacht gerät, einen bunten Beipackzettel mit einer ausführlichen Gebrauchsanweisung von Andy Ammer (multifunktionaler spiritus rector der Münchner Freiheiten, Radio, Texte usw) sowie ein kinematografisches Begleitschreiben von Pico Be aka Federico Sánchez, noch so ein Munich-Unikum, das sich zu den zehn durchnummerierten „Leg“-(fast-)Instrumentals einen oder mehrere Film(e) hat einfallen lassen, vogelnahes Zeug von Farocki, Fassbinder, Valentin aber auch „O Ornitologo“ des Portugiesen João Pedro Rodrigues, zu dem er Adorno über Mahlers musikalische Physiognomik zitiert.

Das Album

Le Millipede: Legs and Birds. Dhyana Records.

Ja, man kommt schnell vom Hundertsten ins Tausendste bei diesem Tausendfüßler. Zehn Beine und siebzehn Vögel enthält „Legs and Birds“ und auf wundersame Weise geraten menschengemachte Musik und menschengemachte Field Recordings ins Miteinanderkommunizieren, vor allem, wenn man sie nicht im Sinne des Erfinders konsumiert.

Mathias Götz sortiert Teichrohrsänger, Mittelmeermöwe & Co auf eine Vinylplatte und die zehn „Legs“ genannten (Fast-)Instrumentals auf eine weitere. Die Trennung birgt Gefahren: Alle Vögel auf einmal können zur akustischen Tapete schrumpfen, zur Ambience der guten Öko-Absichten. Kombiniert man aber das Gezwitscher via Playlist mit den Legs-Freestylern, dann entsteht ein merkwürdiger… bleiben wir in der Natur und nennen ihn: Befruchtungseffekt. Schlagschwirl, Gelbspötter und Waldlaubsänger öffnen die Ohren für Götz’ dub-informierte Posaunen, Drones und gelegentliche doowoppende Chöre. So muss es gewesen sein damals, 1966, in diesem Zoo, den die Beach Boys aufsuchten, um warm angezogen Lamas fütternd für das Cover von „Pet Sounds“ zu posieren. „I just wasn’t made for these times“, der Weltflucht-(Non)Hit dieses Albums, könnte auch das Leitmotiv von Le Millipede sein und diesem im allerbesten Sinne eskapistischen Doppelalbum, das Fluchtwege anbietet in qua Erwachsenwerden verlorengegangene Mindscapes; flüchtige Zustände, die wir Kindheit nennen, auch das eine Parallele zu den (Haus)Tierklängen der ewigen Strandjungs.

Wo der ganze Vogelkram herkommt? Mathias Götz erinnert sich: „Das ist aus der Kindheit. In einem Nachbardorf gab es einen, der hat Vogelwanderungen angeboten, und mein Vater ist da mitgegangen und hat mich mitgenommen. Manchmal waren meine Brüder auch dabei, aber die hat es irgendwie nicht so interessiert. Vielleicht war das auch eine Möglichkeit, mit meinem Vater was zu machen, weil der noch viel gearbeitet hat. Und da war das so ein Moment, wo man zusammen Sonntagmorgens um sieben, äh, zusammen irgendwo im Wald war. Und das war dann irgendwann, als ich 15 oder 16 war, jedes Mal so: Och nee, aufstehen, das ist das letzte Mal! Heute gehe ich zum letzten Mal mit, und dann fährt man halt dahin und läuft los. Und danach denkt man sich, ach, es war wieder so toll!“

Aber natürlich ist „Legs and Birds“ nicht zu haben ohne die Erinnerung daran, dass heute nix mehr so toll ist. „Seit Jahren wird die Welt immer kaputter“, sagt der Vogelrekorder. „Es werden immer mehr Flächen versiegelt. Als ich angefangen habe, Vogelstimmen aufzunehmen, war ich fast nur in Naturschutzgebieten unterwegs, nur da gab es noch einen Raum, der einigermaßen okay war. Dann ist mir aufgefallen, wenn es diese Naturschutzgebiete nicht geben würde, dann wären noch viel mehr Flächen versiegelt. Es würde durchgebaut. Deswegen dachte ich, man müsste mehr für den Naturschutz machen, für die Insekten, für die Tiere, für die Vögel. Man könnte ja auch einfach die Vögelplatte als Compilation sehen und sich einfach eine Vogelplatte anhören.“ Nehmt das, ihr Ökohasser! Oder, wenn ihr partout nicht wollt, spielt Stereo Total: „Du bist gut zu Vögeln“.

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