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Hans im Unglück

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Von: Hans-Klaus Jungheinrich

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Ein Peter Grimes mit jugendlicher Tenorstimme, die riesige dynamische Reserven parat hat: Vincent Wolfsteiner.
Ein Peter Grimes mit jugendlicher Tenorstimme, die riesige dynamische Reserven parat hat: Vincent Wolfsteiner. © Monika Rittershaus

Masse und Meer: Benjamins Brittens "Peter Grimes" hochkarätig an der Oper Frankfurt.

Im „Lohengrin“ fällt der Name des Titelhelden überhaupt kein einziges Mal bis kurz vor Schluss – das gehört zum besonderen Pfiff der Handlung. Gerade umgekehrt in Benjamin Brittens „Peter Grimes“ – da ist der Name ständig präsent und bekommt gegen Schluss die Unentrinnbarkeit einer biblischen Anrufung gleich der gemeißelten Jahwe-Frage „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“. Das Pochen auf den Namen: bereits eine Verurteilung. Wir befinden uns nah bei Kafka, in der damals auch vom jungen Walter Jens beschworenen Welt der Angeklagten; mitten im Existentialismus. Aus Krieg und Nachkrieg ragt Brittens berühmte Oper – wie es auch der Frankfurter Regisseur Keith Warner sieht – in die Zeitlosigkeit.

Wer ist dieser Peter Grimes? Ein finsterer, dumpfer Arbeitsmann, der als Fischer kleine Jungen als billige Helfer aus dem Armenhaus holt, sie verbraucht und totgehen lässt wie Material im achtlosen Verschleiß, so dass er sich bei der Dorfgemeinschaft schnell verdächtig macht und zum Außenseiter wird? Vincent Wolfsteiners Verkörperung setzt den Akzent ein wenig anders.

Der hellen, jugendlichen Tenorstimme, die in einigen Ausbrüchen riesige dynamische Reserven parat hat, gebricht es nicht an lyrischer Intensität, vehementem Leidens-Ausdruck oder (in der einsamen Schlussphase mit dem jenseitig herüberklingenden Nebelhorn) einem in stille Ausdruckslosigkeit gesteigerten Vokal-Minimalismus von geradezu inbrünstiger Wirkung. Ja, so paradox geht es in dieser einzigartigen Opern-Antiklimax zu.

Grimes ist kein Dämon mehr in dieser Darstellung

Was dieser Darstellung, die den Grimes entdämonisiert und endlich verklärt, offenbar am Herzen liegt, ist eine Art „Jedermannisierung“ dieses zwielichtigen, durchaus auch als schuldig gezeichneten Charakters. Folgerichtig fehlen diesmal die Timbres des tenoral Grellen oder Giftigen vollständig, und in all seinem Träumen, Brüten, Spintisieren und Phantasieren bleibt die Figur auf der Bühne jetzt ein eigentlich liebenswerter Junge, den die ablehnende Umgebung spröde und mürrisch macht. Ein vom Pech verfolgter naiver Hans im Glück wird zum Hans im Unglück.

Zweiter Hauptakteur der Oper ist der Chor, die Einwohnerschaft des kleinen Fischerstädtchens in der nordenglischen Küstenlandschaft Suffolk (der Heimat des Komponisten), ein antagonistisch gegen den unangepassten Einzelnen in Stellung gebrachtes Kollektiv. Britten markiert es manchmal auch versöhnlich, ja pittoresk, lässt die Oper auch als Genrebild ausklingen nach dem Motto „das Leben geht weiter“ (nachdem der individualistische Störenfried den Tod im Meer gefunden hat).

Zuvor aber bäumt sich die Wut dieser Volksgemeinschaft zu einem mythisch lynchlüsternen Rachefeldzug auf, angetrieben von den gewaltigen „Peter Grimes“-Schreien, die hernach echohaft als innere Stimme Peters wie aus der Ferne weitertönen. Mit dem martialisch an die Rampe postierten Chor (Einstudierung: Tilman Michael), der beim Fortissimo mit allerlei improvisiert rustikalem Waffengerät fuchtelt, überdreht Keith Warner die dramaturgische Schraube in der vorletzten Szene bis ins Karikaturistische. Zuvor nutzt er schon ein Orchesterzwischenspiel, um die Dorfmeute beim (im Handlungsverlauf niemals wirklich werdenden) Vollzug ihres Wunschmordes zu zeigen.

Warner verschweigt nicht, dass es – ehe Peter selbst zum „Opfer“ wird – die Kinder sind, die inmitten der Grausamkeit von Natur und Gesellschaft untergehen. In vielsagender Uneindeutigkeit verschwimmen die real stummen Kinder der Handlung mit den imaginär-untoten Geistererscheinungen, die Warner einigen Instrumentalbildern zuteilt, besonders eindrücklich kurz nach dem Beginn, wenn Grimes und ein Kind – er sein schweres Boot, es ein winziges Spielfahrzeug am Faden ziehend – parallel auf den dunklen Bühnenhintergrund zugehen: ins Nirgendwo.

Auch dieser Abend zeigte die enorme Könnerschaft des Regisseurs. Suggestive Personenführung, präzis ausgearbeitet in der Ruhe wie in der Bewegung. Spannungsvoll der Kontrast zwischen dem eher expressionistisch-monumentalen Bühnenbild (Ashley Martin-Davis) mit einer gewaltigen Doppelwand, die sich teilen ließ und dann das kahl-spitzwinklige Kneipeninterieur herstellte, sowie den penibel historisierenden Kostümen von Jan Morrell – im vorherrschenden Schwarzweiß eine frappierend funktionierende Dialektik der aus zeitlicher und örtlicher Konkretion hervorgehenden „existentialistischen“ Allgemeingültigkeit.

Licht und Schatten sind unscharf verteilt

Da in Montagu Slaters genialem Libretto Licht und Schatten unscharf verteilt sind, Recht und Unrecht zwischen der Masse und dem Einzelnen also kaum klar unterschieden werden (nur am Schluss erregt der zu Tode Gehetzte eindeutig Mitleid und gewinnt eine kreatürliche Würde wie der „M“ im Film von Fritz Lang), sind es, wie bei Dostojewskij, oft die dubiosesten Personen, die das Richtige sagen oder tun – der versoffene methodistische Fanatiker geißelt den Missbrauch der kindlichen Arbeitssklaven; die bigotte, von Opium zerfressene Klatschtante handelt aus widriger Freude am Skandal eigentlich im gediegen kommunitären Bürgersinn, indem sie die Suche nach dem verschwundenen Kind antreibt.

Deutlicher aus der Menge der kollektiven Selbstbezogenheit herausgehoben sind die junge Lehrerin Ellen (Sara Jakubiak mit wunderbar aufblühender Diktion), glücklos als ewige Traumfrau der unrealisierbaren Wünsche Peters, und der väterliche Freund Captain Balstrade (James Rutherford mit wohlfundiertem Bariton). Ein vital-komödiantisches Kabinettstück die Auntie-Rolle mit Jane Henschel.

Mit dem Dirigenten Sebastian Weigle war das musikalisch hohe Niveau der Aufführung zu erwarten. Es ergab sich ein gleichsam natürlich fließender (englischer) Sprachduktus, vom leichtgewichtigen Parlando-Beginn – typisch für Brittens locker-simple Einstiege, die erst allmählich zu Verdichtung führen – bis zu den minutiös ausgearbeiteten Vokalensembles (herrlich frei ausströmend etwa das Frauenquartett), zuerst und zuletzt aber immer auch beim Einbezug der ebenso wuchtigen wie tonmalerisch differenzierten Chorstrecken. Am Instrumentalkolorit, dessen Kantigkeiten Weigle durch flimmernd-impressionistische Effekte zu konterkarieren wusste, entdeckte er gar noch Unerhörtes wie die prägnant abgezirkelten „trockenen“ Einzelakkorde bei der Begleitung des letzten Ellen-Monologs.

Norbert Abels, der Produktionsdramaturg, hatte schon Recht, wenn er in seinem Einführungsvortrag die hintergründig-gewittrige Großartigkeit dieser Meeresmusik hervorhob, ein dunkleres Gegenstück zu Debussys „La mer“. Mit ihrer weitläufig-philosophischen, rüttelnd dramatischen Handlung, erst recht mit den „Argumenten“ einer unwiderleglichen Musik gehört diese Oper zu den bleibenden des vorigen Jahrhunderts.

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