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Geschichte des Jazz: Die ambivalente Neugier auf Exotisches

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Von: Hans-Jürgen Linke

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Alex Hydes 12 Musical Ladies, um 1930. 	Jazzinstitut Darmstadt
Alex Hydes 12 Musical Ladies, um 1930. © Jazzinstitut Darmstadt

Wolfram Knauers umfangreiche und umsichtige Geschichte des Jazz in Deutschland.

Wie gelangte der Jazz nach Deutschland und was wurde hier aus ihm? Wolfram Knauer, Leiter des Darmstädter Jazzinstituts, hat zu diesem Fragenkomplex ein umfangreiches Buch geschrieben, das unter optimaler Berücksichtigung der Faktenlagen eine präzise, materialreiche und überaus lesenswerte Erzählung liefert. Ausgehend vom europäischen Kolonialismus und der nicht immer unschuldigen Neugier aufs Exotische, das in seinem Gefolge entstand, fächert sie entlegene Zusammenhänge auf, über die Mediengeschichte des Jazz, sein politisch vielschichtiges Schicksal in den 1930er und 1940er Jahren und danach, seine Nachkriegs-Entwicklungen und seine aktuellen Verästelungen und Institutionen.

Als dokumentierter Anfang der Jazz-Geschichte gilt eine Aufnahme der Original Dixieland Jass Band, die ab Mitte 1917 die Schreibweise des „Jazz“ in ihrem Namen änderte. Der „Livery Stable Blues“ und der „Dixie Jass Band One Step“ erschien am 7. März 1917 und wurde ein großer Verkaufserfolg. Einen Monat später traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein, und ab Ende 1917 kämpfte in Europa – zunächst als Teil der französischen Armee – unter anderem ein afroamerikanisches Regiment, das später Harlem Hellfighters genannt wurde und eine eigene Militärkapelle hatte. Es scheint diese afroamerikanische Militärkapelle gewesen zu sein, die zum ersten Mal in Europa das Musikpublikum zum Jazzpublikum machte.

Natürlich hat es auch vor 1917 schon Jazz gegeben, und selbstverständlich ist ein so komplexes kulturelles Phänomen wie die Ausbreitung eines musikalischen Stils und einer musikalischen Praxis nicht auf einige Schlüsselereignisse zu reduzieren. Aber die Schallplattenaufnahme und die Präsenz der Harlem-Hellfighters-Marschkapelle in Frankreich markieren doch einen großen Schritt: Sie sind Auftakte für die Herausbildung einer musikalischen Mode mit Hilfe einer sich mählich entwickelnden Musikindustrie. Afroamerikanische Musik war fortan nicht mehr nur Musik in der und für die einschlägigen Communities in den Südstaaten nach dem Ende der Sklavenhaltergesellschaft; sie hatte sich von ihrer identitätsstiftenden Aufgabe gelöst und brachte in Europa Füße zum Wippen, die bis dato in der Musik überwiegend mit Walzern und Märschen beschäftigt gewesen waren.

Wolfram Knauers große Erzählung von der Geschichte des Jazz in Deutschland verfolgt auch die ambivalente Geschichte des Misstrauens und der empathischen Aneignung der fremden Idiome und der exotischen Spielhaltungen während der 20er Jahre, während des Nationalsozialismus, während der zweistaatlichen deutschen Nachkriegszeit und über die so genannte Wiedervereinigung bis in die Gegenwart.

Im Getümmel des geradezu enzyklopädischen Materialreichtums behält Knauer stets einen angenehm ordnenden Überblick, der eher Vorschläge für Interpretationen und thematische Linien unterbreitet als festlegend zuweist. Er vergisst nicht die Widersprüche der historischen Entwicklungslinien, zeichnet Übergangsformen zwischen Gebrauchsmusik und konzertanter Bühnenmusik und widmet sich mit soziologischem Weitblick den Institutionen und Vorgängen, mit denen sich der Jazz in der Gesellschaft festgesetzt hat. Vor allem aber würdigt Knauer die Musikerinnen und Musiker, denen sich diese kreativste kulturelle Entwicklung des 20. Jahrhunderts verdankt, und er lässt keinen Zweifel an der Zurechnung dieser Musik zu dem, was in Deutschland „Hochkultur“ heißt.

Wolfram Knauers Arbeit trägt auch zusammen, was Forscher, Journalisten, Musiker und andere Fachleute im Laufe der Jahre zur Geschichte des Jazz in Deutschland publiziert haben. Seine Quellen sind tief gestaffelt; als Mitbegründer und Leiter des Darmstädter Jazzinstituts – das die reichhaltigste Sammlung zum Thema Jazz zumindest auf diesem Kontinent beherbergt – sitzt er gewissermaßen im Zentrum eines weitgespannten Netzes, dem weltweit keine relevante Äußerung entgeht. Sein Umgang mit dem Material ist sorgfältig und redlich, Fakten- und Lektüre-Fundamente sind solide, und die Verbindungen zwischen Stil-Analysen der Musik mit der historischen Erzählung sind frappierend gut gelungen und fügen sich zu einer exemplarischen Kulturgeschichte und einem anregenden Lesestoff.

Von Hans-Jürgen Linke

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