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Genau fürs Jetzt

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Von: Tim Gorbauch

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Pianist Igor Levit und die Wiener Philharmoniker in Frankfurts Alter Oper.

Zuerst, wie so oft, wenn Michael Tilson Thomas am Dirigentenpult steht, Charles Ives. Noch immer wird der Begründer der modernen amerikanischen Musik bei uns in Europa als ein Außenseiter gehandelt, als ein Pionier zwar, aber doch auch als ein Eigenbrötler abseits der großen Erzählung und Entwicklung klassischer Musik. Thomas spielt ihn anders. Der 2. Abschnitt seiner „New England Holidays“ – „Decoration Day“ – wirkt wie ein sinfonischer Januskopf. Es ist nicht nur Aufbruch, Neues, Materialrevolution, sondern man spürt auch die große alte Idee philharmonischer Klangschönheit, in die sich allmählich erst Querstände hineinfressen. Nach und nach gerät die Musik aus dem sicheren Tritt, schwankt der Zukunft entgegen. Man muss unwillkürlich an Gustav Mahler denken, wenn man Ives so hört.

Thomas, seit mehr als einem Vierteljahrhundert Chef des San Francisco Symphony Orchestra, ist mit den Wiener Philharmonikern in Frankfurts Alter Oper zu Gast. Nach Ives bedient das Programm die Sehnsucht nach der goldenen Vergangenheit: Beethoven 3. Klavierkonzert, Brahms 2. Sinfonie. Thomas ist niemand, der die Partituren gegen den Strich bürsten möchte. Sein Brahms ist souverän, voll und farbig, kennt Grazie genauso wie finalen Schmiss, bleibt aber in jedem Takt maßvoll. Und auch Beethoven wirkt zu Beginn eher wie verwaltet, auf Sicherheit gespielt. Es braucht den ganzen Körpereinsatz Igor Levits, um die Musik auf eine andere Energieebene zu heben.

Levits Spiel ist seit je alles Beiläufige fremd. Er deutet Musik existentiell. Sie entsteht nicht nur im Jetzt, sondern auch genau für diesen Augenblick, für ihn, für uns. Dafür nimmt der 31-Jährige sich Freiheiten. Er denkt die Kadenz des ersten Satzes in die Extreme und steuert sie zugleich ganz selbstverständlich auf diesen wundersamen Moment zu, an dem das Klavier ein kurzes Zwiegespräch mit der Pauke hält. Und eröffnet dann das folgende Largo so leise und prekär wie niemand sonst. Vor jedem Akkord hält er einen Augenblick inne. Als wäre die Musik sich ihrer selbst nicht sicher.

Levit legt gerade hier wahnsinnig viel Gewicht und Bedeutung auf jeden einzelnen Ton. Man kann das manipulativ finden – Levit ist ja in der Tat genau deshalb nicht unumstritten. Oder man ist berührt von der erzählerischen Kraft, die seinem Beethoven innewohnt. In der Alten Oper ist die Entscheidung eindeutig. Der Applaus ist gewaltig. Manche versuchen es mit Standing Ovations. Und Levit bedankt sich mit einer Zugabe wie aus einer anderen Welt. Kein Rausschmeißer, keine Virtuosenschau, im Gegenteil, ganz still, völlig in sich gekehrt. So einen wie ihn gibt es nicht oft.

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