Fliegen, Blut und Donnerschlag

Kiss lässt es in der Frankfurter Festhalle krachen, aber zum Glück friedlich, und bittet auch um einen Moment der Stille.
Auf der Internetseite setlist.fm hinterlegen Fans seit einigen Jahren, welche Lieder eine Rock- oder Popgruppe beim Konzert gespielt hat. Dann können andere Fans schon mal schauen, was sie erwartet, wenn die Band auch in ihrer Stadt auftritt. Manchmal stehen kleine Details dabei, die in der Summe ein profundes Bild der zu erwartenden Show ergeben. Die Setliste zur Tournee der vor 44 Jahren in New York gegründeten Hardrockcombo Kiss enthält unter anderem diese Hinweise (Übersetzung aus dem Englischen): „Gene spuckt Feuer“, „Gene spuckt Blut und Fliegen“, „Paul fliegt zur Bühne in der Mitte der Menge“, „Papier regnet über die ganze Menge“. Was nicht auf der Setliste steht: „Laut wie drei Düsenjäger“, „Kanonenschüsse in jedem einzelnen Lied“ und „Denk endlich dran, Ohrstöpsel zu Großkonzerten mitzunehmen, du Ohrtölpel“.
Gitarre in Deutschland-Farben
Los geht’s um kurz nach halb zehn mit dem traditionellen Kiss-Slogan „You wanted the best – you got the best“, dann Vorhang auf, Krachpengrauchfeuer und der 1974er Song „Deuce“. Sänger Paul Stanley spielt eine Gitarre in Deutschland-Farben, Bassist Gene Simmons fährt zum ersten Mal seine legendäre, gefühlt vier Meter lange Zunge aus. Es wird nicht das letzte Mal bleiben. Zwischendurch wird man sich fragen, ob so eine Zunge womöglich austrocknet, wenn man sie den ganzen Abend an der Luft lässt. Kiss ist die Band, die nicht in erster Linie durch ihre Musik weltberühmt wurde, sondern durch ihre Comic-haften Masken und Kostüme. Simmons tritt generell in einer Rüstung auf, geschminkt als „The Demon“. Gründungspartner Stanley ist „The Starchild“, und die jeweiligen Schlagzeuger und Leadgitarristen, einst Peter Criss und Ace Frehley, heute Eric Singer und Tommy Thayer, sind „The Catman“ und „The Spaceman“. Das beeindruckte Zwölf- bis Vierzehnjährige in den 70er Jahren sehr. Über die Zeit ist es eine Art bunter rennender Gag geworden. Und ein Alleinstellungsmerkmal geblieben.
Eine Minute der Ruhe
Simmons (67) und Stanley (65) bewegen sich immer noch flüssig auf ihren gewagten Plateausohlen, und sie lassen keine Sekunde nach im Unterhaltungsprogramm für Jung und Alt. Stanley krächzt nach jedem Lied Anfeuerungsparolen mit seiner albernen Comic-Sprechstimme. Vor allem aber schafft er einen beeindruckenden Moment: Für die Opfer des Anschlags von Manchester bittet er um eine Minute der Ruhe – und tatsächlich schweigt die gesamte Festhalle, Veteranen des Hardrocks, ganze Familien als „Starchild“ geschminkt, Vater, Mutter, Kind mit weißen Gesichtern und schwarzem Stern über dem rechten Auge. Was folgt, ist echte ursprüngliche Rock-Unterhaltung einschließlich der Disziplinen „Gitarrenplektren massenweise ins Publikum werfen“, „Kniefall beim Solo“, „Satzgesang, vierstimmig“ und „Lightshow, die diesen Namen verdient“. Denen, die erstmals da sind, sagt Stanley: „You never forget your first Kiss“. Zu „Flaming Youth“ laufen alte Filmschnipsel mit den jungen Monstern, und da sieht man dann schon einen gewissen Unterschied. Wir werden nicht jünger. Aber wir spucken, das ist beruhigend, trotzdem im Rentenalter keine Fliegen. Wie sich herausstellt, lässt sich der eingangs zitierte Satz „Gene spits blood and flies“ von der Setliste ebenso plausibel übersetzen mit: „Gene spuckt Blut und fliegt.“ So kommt es dann auch. Fazit: Im Vergleich zu anderen Zeitgenossen hatte Kiss nie die stärksten Songs, blieb aber bis heute authentisch, kraftstrotzend und mysteriös. So schwingt beispielsweise der Mikrofonständer von Drummer Singer geisterhaft davon, wenn er ihn gerade nicht braucht. Jedes einzelne Lied endet in einem veritablen Bühnendrama, als kämen die Helden nie mehr zurück. In der Festhalle feiert die Band den 38. Jahrestag der Veröffentlichung von „Dynasty“, dem Album mit dem Hit. Erste Zugabe ist also „I Was Made For Loving You“, dann „Detroit Rock City“ und dann wieder Krachbummpeng, aber zum Glück friedlich. Man fährt ja doch jedes Mal zusammen.