Evgeny Kissin in Frankfurt: Wie man Rachmaninow spielen sollte

Der Pianist Evgeny Kissin mit Bach, Mozart, Chopin und Rachmaninow in der Alten Oper Frankfurt.
Es ist eine Synthese aus detailreichem Feinsinn und Wucht, die Evgeny Kissin bei seinem Auftritt im 4. Abonnementskonzert „Klavier“ der Alten Oper Frankfurt das Publikum im ausverkauften Großen Saal erleben lässt. Eine mächtige Pranke ist dabei im Spiel, die aus dem auf dichtes Tiefenregister gestimmten Flügel alles an Kraft herausholt und dabei doch die große Präsenz an Obertonreichtum sowie die hellen Register leuchten lässt. Richtig ins Spiel kommt das erst gegen Ende des ersten Teils des Abends und dann vollends im zweiten.
Bach, waghalsig
Begonnen hatte der 51-Jährige mit „Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll BWV 903“. Eine Tonarten-Exkursion, die Johann Sebastian Bach in einem einzigen Zug modulatorischer Waghalsigkeit 1720 in Köthen vollzieht, bevor die gewitzte Fuge dann den musikalischen Ordo-Gedanken wieder stark macht. Kissin ging das Werk mit viel Artikulation an, setzte dem nicht zu rasant sich vollziehenden Flow der Akkordstimmungen Hebungen und Senkungen ein, was die harmonische Drift der ungewöhnlichen Satz-Rhetorik ins Expressive wendete und den unerbittlich voranschreitenden Zug milderte.
Mozarts Sonate Nr. 8 in D-Dur KV 311 aus dem Jahr 1777 folgte in sehr schnellem Tempo, was die mozartsche Klangrede gefällig und harmlos erscheinen ließ.
Kissins Vollgriff kam dann bei Chopins fis-Moll-Polonaise op. 44 erstmals ins Spiel. Die polnische Tanzfigur mit ihren dichtbesetzten Tonfolgen, die in Fülle und klanglicher Tiefe einen unfreiwillig aufsässigen Charakter hatten, erschloss sich vorzüglich als Kern eines nationalstaatlichen Bekenntnisses des pianistischen Exilanten. Die Abbruchkante zur mittelteiligen Mazurka, bevor wieder das dräuende polnische Idiom einsetzt, war hervorragend herausgestellt.
Die zweite Hälfte des Konzerts blieb gänzlich Rachmaninow vorbehalten (vor allem Préludes: a-Moll op.32/8 und Ges-Dur op.23/10 sowie fünf Sätzen aus den „Études tableaux“ op. 39). Kissin zeigte sich als Interpret, der das immense Spektrum aus wuchtigem Klang, differenzierter Binnen-Linearität und Vielstimmigkeit zusammenzuhalten vermag. Verglichen mit seinen Rachmaninow-Aufnahmen aus Moskau von 1985 war der Duktus nun schwerer und bohrender.
Aber auch jetzt galt: es braucht nicht Trockenheit und Sparsamkeit, um Rachmaninow Transparenz zu verschaffen; und nicht Furioses und Gewalt zur Bildung seiner artistischen Ausdrucksgestalt.