Englands geheime Königin

Nach 38 Jahren des Schweigens bringt die große Folksängerin Shirley Collins ein neues Album heraus.
Von Jens Balzer
Was für ein Geschenk. Fast vierzig Jahre lang haben die Verehrer der geheimen Königin Englands auf dieses Werk warten müssen. „Secret Queen of England“ wird Shirley Collins von den Menschen genannt, die ihr jahrzehntelanges Verstummen beklagten und die sich fast ebenso lange darum bemühten, sie zurück auf die Bühne zu holen.
Unter den britischen Folksängerinnen des letzten Jahrhunderts ist sie ohne Frage die größte, und das, weil sie von allen die geringste Romantik verströmte. Von allen hatte sie fraglos die schönste Stimme, und das, weil diese von allen zugleich die schroffste und wundeste war. Kein idyllischer Wohlklang, kein Trugbild einer harmonisch-behaglichen Natur sprach aus ihrem Gesang, sondern das gegerbte Timbre lebenslanger Mühsal und Last. Ihre Lieder handeln von Tod und Sehnsucht, von der Härte des einfachen, ländlichen Lebens und den umso kostbarer erscheinenden kurzen Momenten des Glücks. In ihrer Musik reist man weit zurück in die Zeit und ist doch so nah wie nur möglich an der eigenen Gegenwart: erhabene, immer gültige, allgemein menschliche Sounds.
Geboren wurde Shirley Collins 1935 im südenglischen Hastings, ihre Karriere als Sängerin begann sie Mitte der fünfziger Jahre, als sie in London auf den texanischen Musikethnologen Alan Lomax traf. Dieser hatte schon in den Dreißigern damit begonnen, die Bluesmusik der US-Südstaaten zu archivieren. Mit Wachswalzen nahm er die Lieder des heute legendären Bluessängers Leadbelly im Gefängnis auf; in den Vierzigern brachte er Pete Seeger und Woody Guthrie zusammen und wurde zum Impresario der politisch progressiven Folkmusik-Szene; 1950 floh er vor dem McCarthyismus aus seinem Heimatland nach Europa.
In Großbritannien machte Lomax dort weiter, wo er in den USA aufgehört hatte, er bereiste Schottland und Irland und nahm alte Volkslieder auf. Auch interpretierte er diese in seiner eigenen Skifflegruppe The Ramblers, für die er Shirley Collins als Sängerin engagierte; 1958 spielte diese mit Lomax dann „Sweet England“ ein, ihr erstes eigenes Volkslieder-Album. In den folgenden Jahren reisten beide in die USA und nahmen vor allem in den Südstaaten Gottesdienstgesänge, Wiegen- und Klagelieder auf. Nach ihrer Rückkehr nach England machte Shirley Collins sich als singende Archivarin selbstständig, sie sammelte Noten, Tonbandaufnahmen und Schellackplatten und interpretierte die dergestalt rekonstruierten Lieder auf einer Reihe von Soloalben.
Anders als ihr erster Mentor Lomax, ging sie aber schon früh über das bloße Archivieren hinaus. In ihren Arrangements und der Intonation ihres Gesangs verband sie amerikanische und englische Stile und schuf daraus ein eigenes, transatlantisches Idiom. Inspiriert von der erblühenden britischen Improv- und Psychedelia-Szene, öffnete sie ihre Musik zudem für moderne Arrangements und Instrumentierungen, zuerst und in stilprägender Weise 1964 auf dem mit dem Fingerpicking-Gitarristen Daevy Graham veröffentlichten, epochalen Album „Folk Roots, New Routes“.
Für das britische Folk-Revival der späten sechziger und frühen siebziger Jahre – für Gruppen wie die Incredible String Band oder Steeleye Span – wurde Collins zu einer prägenden Figur; und mit der Albion Country Band, die sie mit ihrem damaligen Gatten Ashley Hutchings betrieb, gelang ihr die aufregendste Platte der Ära. Auf „No Roses“ sang sie 1971 mit heller, aber nie seichter, auf reife Art rauer Stimme alte englische Mörderballaden und Lieder von gefallenen Mädchen – und setzte traditionelle Instrumente wie Konzertina, Fidel und Hackbrett wie selbstverständlich neben elektrische Gitarren und Bässe; Free-Jazz-Saxofonist Lol Coxhill hatte hier einen erstaunlichen Auftritt.
Mit Hutchings nahm Collins bis 1978 noch einige Platten auf; dann verließ er sie plötzlich wegen einer jüngeren Schauspielerin. Wegen ihres gebrochenen Herzens verlor Collins – wie sie selber sagt – ihre Stimme; sie erkrankte an Dysphonie und verschwand jahrzehntelang aus der musikalischen Öffentlichkeit, stattdessen arbeitete sie als Busfahrerin und Bibliothekarin. Fast zwanzig Jahre dauerte es, bis es von ihr wieder ein Lebenszeichen gab. David Tibet, Kopf der Gruppe Current 93 und Impresario des Neofolk der achtziger und neunziger Jahre, bewegte sie 1996 zur Mitarbeit an seinem Album „The Inmost Light“ und brachte eine Kompilation mit ihren Liedern heraus. Ohne Tibet, hat Collins später gesagt, hätte sie niemals wieder gesungen. Auch auf weiteren Current-93-LPs wie „Black Ships Ate The Sky“ war sie dann zu hören, und 2014 stand sie mit Tibet und seiner Band in London erstmals wieder auf einer Bühne und sang. Aber es hat bis heute gedauert, bis ein neues Album von ihr erschien: „Lodestar“ ist ihre erste Veröffentlichung seit 38 Jahren.
Das Warten hat sich gelohnt: Die Stimme von Shirley Colins ist dunkler geworden, aber darum nicht weniger ausdrucks- und kraftvoll; und ihre Musik ist immer noch so traditionsfest und zugleich wagemutig wie in ihren besten Zeiten. Auf „Lodestar“ singt sie britische und amerikanische Lieder aus fünf Jahrhunderten. Dabei wechselt sie immer noch mühelos zwischen den Epochen und Stilen, sie versieht das englische Volkslied „Death and the Lady“ – das sie erstmals 1970 mit ihrer inzwischen verstorbenen Schwester Dolly interpretierte – mit einer Southern-Blues-Gitarre; sie lässt ihre Volksweisen von Stephen Thrower und Ossian Brown mit Gitarren- und Dudelsackdrones unterwühlen.
Thrower und Brown spielten einst in der Industrialband Coil; mit ihrer aktuellen Gruppe Cyclobe waren sie vor drei Jahren in Berlin auf dem CTM-Festival zu sehen. Sie haben die Songs mit Shirley Collins und wechselnden Begleitern in ihrem Haus in Südengland eingespielt, nur mit einem Laptop als Aufnahmegerät – als moderner Wachswalze, gewissermaßen, denn beim Hören von „Lodestar“ fühlt man sich an jene Field Recordings erinnert, mit denen Collins und Lomax die Folktradition einst vor dem Verschwinden zu bewahren versuchten.
Nun wird die geheime Königin Englands von ihren jungen Verehrern selbst vor dem Verschwinden gerettet: was für ein Glück! Und wie schön wäre es, wäre dies bloß die erste Blüte in einem noch lange währenden neuen Frühling von Shirley Collins.