Ab durch den Schredder

Laut und lang, schön und gut: Die Prog-Rock-Band King Crimson spielt im Berliner Admiralspalast.
Okay, das war ein harter Abend. Versuchen wir es mal mit einer bündigen Definition: Das Kompositionsprinzip der Musik von King Crimson besteht aus Differenz und Wiederholung. Das kling jetzt komplizierter, als es ist, denn eigentlich geht es nur darum, eine melodische oder auch rhythmische Phrase immer wieder aufs Neue zu spielen und bei jedem Durchgang eine kleine Änderungen vorzunehmen. Auf diese Weise verschiebt sich das Klanggefüge. Und auf diese Weise werden unsere traditionell westlichen Vier- oder Drei-Viertel-Metren und wohltemperierten Harmonien chirurgisch präzise zerschreddert. Das ist ein durchaus avantgardistisches Programm und nennt sich bei King Crimson Prog-Rock.
Am Sonntag standen auf der Bühne des Berliner Admiralspalasts drei voll ausgestattete Schlagzeuge. Kein Zweifel: Lässt man die nur lange genug mit- und gegeneinander laufen, wird das eine wunderbare Schredderei ergeben. Vor zwei Jahren waren King Crimson mit eben dieser Besetzung auch schon im Palast zu Gast – was nun der Anlass sein könnte, noch einmal ganz anders über das Prinzip von Differenz und Wiederholung nachzudenken. Schließlich sind die britischen Prog-Rocker, die, wenn schon nicht als Erfinder dieses Genres, so doch als dessen strengste Verfechter gelten können, längst ins Stadium der Selbsthistorisierung eingetreten. Das musikalische Erbe muss dem Publikum eingebimst werden.
So lautet Robert Fripps Mission. Das Gründungsmitglied der Band ist zugleich auch das einzig verbliebene Mitglied aus den heißen Gründungsjahren in den späten 60er Jahren, als die Rockmusik auf sehr artistische Weise progressiv sein wollte, eben Prog-Rock: fortschrittlich und damit irgendwie bewusstseinserweiternd und gesellschaftsverändernd, aber dies nicht mit parolenhaft-lyrischen, sondern rein klanglichen Mitteln – um alte Hörgewohnheiten zu zertrümmern. Fripp also, der Mann an der Gitarre, ist der Mastermind von King Crimson. Er gibt die Einsätze, bleibt ansonsten im Hintergrund und hat eine bis zum Kinn reichenden Effektkonsole vor sich. Ein Hauch von „mad scientist“ umweht den 72-Jährigen auch.
Verrückt ist der Aufwand, den King Crimson treiben, allemal. Von den drei Schlagzeugern – Pat Mastelotto, Gavin Harrison und Jeremy Stacey – sowie dem denkenden und lenkenden Fripp mal abgesehen, gibt es mit dem Sänger Jakko Jakszyk noch einen weiteren Gitarristen, Mel Collins bläst Saxophon und Flöte, Bill Rieflin steht an den Keyboards und Tony Levin spielt Bass und Stick. Dieser gewaltige Klangkörper widmet sich der großen Vergangenheit King Crimsons. Das hat, wenn man den feinen älteren Herren beobachtet, als der Fripp mit Hemd, Krawatte und Weste in seiner Ecke sitzt, etwas Rührendes. Er führt uns noch einmal die ganze Pracht und Herrlichkeit des Prog-Rock vor: Das, was er uns hinterlassen will.
Und so geht es durchs Gesamtwerk der Band, einer schon recht betagten Avantgarde. Dabei fehlt weder das überwältigungsbombastische „At the Court of Crimson King“ (1969) oder das Vier- und Fünf-Viertel-Takt verwirrspielende, schwermetallische „Larks’ Tongues in Aspic 2“ (1973) noch das unendlich melancholische, absolut untröstliche „Starless“ (1974) oder das in den großstadt-polizeisirenen-dissonant-hektischen Irrsinn entlaufende „Neurotica“ (1981) mit seinem verstörenden, da an die Talking Heads erinnernden Plastik-Pop-Appeal. Oder das all diese zentrifugalen Kräfte in einer vergleichsweise ruhigen Meditation wieder zusammenführende Stück „The ConstruKction of Light“ (2000).
Die Vertracktheit all dieser Kompositionen zeigt sich im Berliner Konzert beispielhaft an dem letztgenannten Stück: In der Originaleinspielung hatte Fripp den großartigen Gitarristen Adrian Belew an seiner Seite, jetzt aber, in der Version mit Jakko Jakszyk, schlingert es leicht, weil Jakszyks Spiel den Tongirlanden Fripps nicht präzise genug entgegenläuft. Genauigkeit aber – oder „Discipline“, wie ein weiterer Titel der Band lautet – ist die unabdingbare Voraussetzung für den frippertonischen Exzess.
Das dekonstruktive Programm von King Crimson duldet keinen Schlendrian, die Befreiung von der Tradition ist kein 68er-Klischee im Sinne des blumenkinderhaften Laisser-faire, sondern harte Arbeit am Klangmaterial.
Knapp 50 Jahre ist die Band jetzt alt. Das letzte Studioalbum liegt 15 Jahre zurück, die letzte Klanginnovation noch weiter. Und die Nachlassarbeiten schreiten gut voran. In Berlin dauern sie – inclusive einer 20-minütigen Pause – drei Stunden. Drei Stunden der Inventur. Drei Stunden der Andacht. Drei Stunden der Seligkeit. Diese Tortur quittiert das vorwiegend ältere, männliche Publikum im ausverkauften Admiralspalast mit stehenden Ovationen: So klingt tief empfundene Dankbarkeit – die Feier eines abgeschlossen Werkes in seiner ganzen Erhabenheit und Gegenwart. Und der Auftakt für zwei weitere Berliner Konzerte. Ein Besuch ist dringend zu empfehlen.
Tourneetermine: Admiralspalast, Berlin: 3. Juli. Philharmonie im Gasteig, München: 16. und 17. Juli.