Doppelchörig dem Volk aufs Maul schauen
Das concerto vocale Fankfurt und Michael Quast lassen den Protestantismus lebendig werden.
Es ist eine hübsche Doppelstrategie, im Lutherjahr den Reformator in seinen Briefen und Traktaten zu Wort kommen zu lassen, um seine Sicht auf die Einheit von Verkündigung und Musik zusammen mit der passenden Musik vorzustellen, was gleich die lutherische Praxis selber darstellt.
So geschehen in St. Katharinen, wo man für die zwischen den musikalischen Beiträgen verlesenen Aussagen Martin Luthers den Schauspieler Michael Quast verpflichtet hatte. Einen Verkünder normalerweise von spöttischen und profanen Sentenzen. Der Komödiant nutzte jedoch die Kanzel bei der Veranstaltung „Luthers Briefe – Bachs Motetten“, um einen dem Inhalt der Reflexionen und Pamphlete angemessenen Ton anzuschlagen. Eine solch klare, kantige, anspringende, ja furiose Predigt dürfte hier selten zu Gehör gekommen sein.
Weit weg von bedenkenträgerischer Betulichkeit, weit weg auch vom allgefälligen Ökumene-Seifenblasengestöber. Hier wurde der Markenkern des Protestantismus lebendig und dem Eingangssatz der Motette „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ besser entsprochen als bei jedem pastoralen Stuhlkreis. „Du heilige Brunst... Und stärk des Fleisches Blödigkeit“ – das concerto vokale Frankfurt sang das unter Leitung des Katharinen-Kantors Michael Graf Münster, der sich eine nicht leichte Aufgabe gestellt hatte.
Gehören doch die meist doppelchörigen Motetten zum Anspruchsvollsten, was das evangelisch-musikalische Zentralgestirn geschrieben hat. Dort, wo Luther dem Volk aufs Maul und damit ins Herz schaut, da hat der Thomas-Kantor weitergehende Ambition: am lutherischen Volkston sowohl griffige Klangbilder als auch Formatierungsqualitäten zu gewinnen, die den theologischen Kern bis in die raffinierteste Struktur einer klanglichen Werkgerechtigkeit treiben.
Doppelchörig heißt doppelter vierstimmiger Satz und ist eine Herausforderung, der man sich im Chorraum der evangelischen Hauptkirche Frankfurts solistisch stellte: die glänzenden acht concerto-vocale-Sänger und dahinter stehend zehn Instrumentalisten (des Bach-Collegium Frankfurt), die, wo sie über das Continuo hinaus überhaupt zum Einsatz kamen, die Vokalisten sowieso nur parallel begleiten. Diese waren sehr gefordert und völlig sicher in den komplexen und sinnhaften Bwegungsfolgen, die obendrein in recht hohem Tempo realisiert wurden.
Ein echtes Reformationsprogramm, das einem den Aufbruch einer großen Bewegung nahe brachte, bevor sie in Gefahr geriet, im sozialen Mainstream einzuschlafen.