Depeche Mode: „Memento Mori“ – Mensch, bedenk die Vergänglichkeit

Die Elektropopper Depeche Mode, nur noch zu zweit, verarbeiten auf dem neuen Album „Memento Mori“ gleich mehrere Traumata.
Natürlich, typisch, dass man sofort diesen eine Umstand in alles hineininterpretieren will. Eine Band, die seit vier Jahrzehnten zusammenspielt, seit 42 Jahren unzertrennlich, und dann stirbt einer der drei Freunde mit 60, und dann erscheint ein Album der verbliebenen zwei, und das Album heißt: „Memento Mori“.
Und dann sagt Sänger Dave Gahan der Deutschen Presse-Agentur: „Alle Songs waren bereits geschrieben, wir haben mit den Aufnahmen begonnen, den Titel gab es schon“, schon vor Andrew Fletchers Tod im Mai 2022. Hört das Hineininterpretieren damit auf? Aber nein. Was wäre eine Plattenkritik ohne hemmungsloses Hineininterpretieren?
„My Cosmos Is Mine“, der erste Song auf dem Zwölf-Track-Album, beginnt angemessen düster. So kennt man die britischen Elektropopper seit langem, entfernt von den hüpfigen Synthesizern der Anfangsjahre. Schwer, bedeutend, bedrohlich: dunkle Basslinie und sphärische Soundgardinen, die an der offenen Balkontür wehen, Mond halb hinter Wolken, wer wird gleich mit schwarzem Umhang hereinstürzen? Spiel nicht mit meiner Welt, mit meinem Herzen, singt Gahan, ändere nicht meine Überschrift (genial in vielerlei Hinsicht), und dann, panisch: kein Krieg, keine Angst, keine Wolken, keine Schmerzen, keine letzten Atemzüge! Da ließe sich leicht der Überfall auf die Ukraine hineininterpretieren, aber wir wissen: Es geht um die Pandemie.
In der Frühphase von Corona entstanden die Songs. „Bis zur Auflösung am Schluss spannt sich das Gefühlsspektrum von Paranoia und Besessenheit bis hin zu psychischer Befreiung und Freude sowie zahllosen emotionalen Zwischentönen“, beschreibt der PR-Text zum Album, und wo er recht hat, hat er recht.
Es ist alles gar nicht so entsetzlich dunkel in diesen pandemischen Songs. Schon „Wagging Tongue“, Nummer 2, hat etwas geradezu Hoffnungsvolles, und „Ghosts Again“ wird sich bei der Stadiontour im Frühsommer zum Mitsinger entwickeln, jede Wette. Auch wenn da wieder viel von Abschied die Rede ist und, noch so ein Depeche-Mode-Dauerthema, von Engeln. So einer ist Andy Fletcher jetzt, ein Engel. Vormals guter Geist der Band. „Man fängt an, über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken“, sagt Dave Gahan. Pandemie, Krieg, Tod. Musik. Wer Menschen verloren hat in diesen Zeiten, in denen es schon fast zur Ausnahme gehört, niemanden verloren zu haben, der weiß, was der ebenfalls 60-jährige Gahan meint. Memento Mori.
Das Album
Depeche Mode: Memento Mori. Columbia/Sony Music.
Es ist nicht so, dass die hüpfigen Synthis ganz weg wären aus dem DM-Sound, aber sie sind anders eingebettet. Standen sie einst bei „New Life“ oder „I Just Can’t Get Enough“ noch schüchtern in der Tür wie ein Teenie beim ersten Besuch der Sonntagsdisco in der Tanzschule, schüchtern, aber umwerfend hübsch, so sind sie jetzt Teil einer reifen Leistung, die Arenen füllt und sich dessen jederzeit bewusst ist. Die Ruhe, die Gahans Stimme ausstrahlt. Die Grundierung, die Martin Gore dem Sound gibt und über die er immer wieder Gitarrenurschreie wirft. Ein ganz starkes Album, dieses 15. Studioalbum, Hut ab, besonders wenn man von den Vorgängern in der langen Reihe nicht mehr ganz so restlos begeistert war.
Wer unbedingt will, kann am Ende natürlich durchinterpretieren, was das Zeug hält. Da heißen die Songs „People Are Good“, „Never Let Me Go“ und „Speak To Me“. Wer will behaupten, er fühle sich da nicht an die Favoriten von einst erinnert.
Das Schlussstück, jenes „Speak To Me“, beginnt mit einer Badezimmerszene, in der jemand den Namen des Liegenden ruft. So lag Gahan 1995. „I will disappoint you/I will let you down/I need to know/You’re here with me“, singt er jetzt. Und die letzten Zeilen des Albums: „I’m listening, I’m here now, I’m found.“ Ich bin jetzt hier, ich wurde gefunden. Wie angenehm, einmal nicht so viel über Gahans Drogenjahre reflektieren zu müssen.
Auf Deutschlandtour ist die Band zu verschiedenen Terminen zwischen dem 26. Mai (Auftakt in Leipzig) und dem 9. Juli (Berlin), darunter zu zwei Stadionkonzerten in Frankfurt am 29. Juni und am 1. Juli.