„Cresc...“: Tektonische Klangverhältnisse

Feuer, Eis und die Erde – Auftakt-Wochenende der „Cresc...“-Biennale im Sendesaal des Hessischen Rundfunks.
Kürzer kann kaum ein Gedicht und umfassender kein Motto sein: „Me We“, sagte Muhammed Ali, als man ihn einst bat: „Give us a poem!“ Was wollte der Schwergewichts-Lyriker damit sagen? Die ursprünglich schon für 2022 geplante Frankfurter „Cresc...“-Biennale erkundet und interpretiert, in Kooperation des Hessische Rundfunks mit dem Ensemble Modern, das wandlungsreiche Spannungsfeld zwischen einem Ich und einem Wir.
Etwa in der Festival-Eröffnung mit Harrison Birtwistles 1986 uraufgeführten „Earth Dances“. Das Programmheft deutet einen Bezug zu Strawinskys „Sacre du printemps“ an und wirft damit die Frage auf: Wer tanzt?
Bei Strawinsky zelebriert eine archaische Gemeinschaft ein Opferritual, bei Birtwistle tanzt die Erde selbst. Das von Mitgliedern des Ensemble Modern verstärkte hr-Sinfonieorchester inszenierte das Stück unter Leitung von Stefan Asbury als wuchtig-objektives Klangereignis aus Bewegungen massiver Klang-Blöcke, die in einer Art klingendem Untergrund von melodischen Motiven angetrieben sind.
In seiner getürmten Langsamkeit erinnert diese Interpretation an Alfred Wegeners Theorie der Kontinentaldrift, die die Oberfläche unseres Planeten in einem tektonisch langsamen, kaum prognostizierbaren Tanz sieht. Dessen überwältigende und schreckliche Auswirkungen bekommen Menschen immer wieder zu spüren.
Das Festival-Motto stellt auch die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft – in diesem Fall die, wer sich bei solcher Bewegung wo befindet. Auf der Erde gibt es keine Position außerhalb der Tektonik, im Konzertsaal scheinbar schon. Insofern konfrontiert eine nach oder vor dem Live-Konzert begehbare Klang- und Lichtinstallation von Birtwistles Werk, die Norbert Ommer, Klaus Grünberg, Tobias Lauber und Lukas Nowok eingerichtet haben, das Publikum mit Veränderung der Hörer-Position. Sie platziert Hörerin und Hörer wie mitten im Orchester und lädt ein, die Position frei zu wählen und zu verändern. So lernen wir etwas über die Energie und Vielfalt in den Bewegungen der Klangblöcke, den Tänzen der Erde. Und können uns an der harmlosen Illusion erfreuen, den Tanz mitzutanzen.
Die Installation verwendet als Material Asburys Interpretation mit dem hr-Orchester; ihre dräuende Wucht und Hermetik atmet den Zeitgeist dieser Monate. Schnellere, luftigere Spielweisen wären denkbar, drängen sich aber nicht auf. Harrison Birtwistle übrigens lebte noch zum ursprünglich geplanten Festival-Termin; inzwischen hat sich der Westen Islands etliche Zentimeter vom Osten der Insel entfernt und die Ebene bei Þingvellir vergrößert.
Warum jetzt Þingvellir? Der zweite Festival-Abend präsentierte Musik aus Island unter dem Sub-Motto „Fire & Ice“, das hr-Sinfonieorchester wurde geleitet von dem isländischen Komponisten und Dirigenten Daníel Bjarnason. Die Auswahl der Stücke orientierte sich zunächst am Konzept einer Analogiebildung zwischen Musik und Natur. „Lendh“ von der kanadisch-isländischen Komponistin Véronique Vaka greift die geologische Thematik in programmmusikalischer Weise („mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“) auf, ähnlich ist „Oceans“ von María Huld Markan Sigfúsdóttir konstruiert. Beide Kompositionen lassen sich wie plastische, durchaus auch abgründig-kontrastive Musik zu Naturfilmen lesen. Páll Ragnar Pállsons „Nadryw“, eine Auftragsarbeit für das hr-Sinfonieorchester, gestaltet energetische Situationen, Entwicklungen und Brüche und erinnert darin an Birtwistles monumentalen Tanz-Entwurf.
Der Höhepunkt des Abends interpretierte Alis Gedicht unter dem alternativen Aspekt der Beziehung zwischen Solist und Ensemble. Der Solist in Bjarnasons Schlagzeugkonzert war der zu Recht vielbewunderte Martin Grubinger, und das Schlagzeugkonzert hat (noch) keinen offiziellen Titel. Bjarnason und Grubinger scheinen zurzeit zu „Hölle“ oder „Inferno“ zu tendiere.
Mit beeindruckend raumgreifender Energie-Entfaltung und manischer Präzision bearbeitet Grubinger vorm Orchester, mit dem Orchester, gegen das Orchester (in dem weitere vier Perkussionisten und Perkussionistinnen arbeiten) seine umfangreiche Perkussions-Welt. Bjarnasons dreisätzige Komposition fordert vom Solisten größten Einsatz, und der athletische Grubinger bleibt nichts schuldig. Im ersten Satz spielt er das Orchester fast an die Wand, der zweite bringt ein wenig Ruhe ins Geschehen, wenn drei Schlagwerker (einer davon Grubinger) eine rituelle, klangintensive Paukenphase aufführen. Der letzte Satz, überschrieben mit „Dark Shores“, führt wieder in die Nähe des Solisten-Infernos.
Es ist einerseits verständlich, andererseits überaus bedauerlich, wenn (der nicht einmal vierzigjährige) Grubinger danach ankündigt, seine Solisten-Karriere beenden zu wollen.