Corona-Tagebuch von Dirk von Lowtzow: Der Sound der Erhabenheit

Der Musiker Dirk von Lowtzow hat ein Jahr lang Tagebuch geführt.
Dirk von Lowtzow hat ein Tagebuch geschrieben. „Ich tauche auf“ heißt es und beginnt am 21. März 2020 mit seinem 49. Geburtstag. Es endet mit dem 50. Deutschland ist im Lockdown. Alles steht still. Auch die Arbeit am neuen Album von Lowtzows Band Tocotronic. „Ich will von diesem traurigen Jahr erzählen“, schreibt Lowtzow, „als wäre es die schönste Zeit meines Lebens gewesen.“
Ende der 90er Jahre etablierten sich Tocotronic als ironische Indie-Teenie-Band mit dem Song „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“. Der Musikjournalist Martin Büsser beschrieb die Gruppe damals sehr treffend als „Take That fürs Indiezimmer“. Während eine Band wie Fehlfarben gegen Ruinen ansinge, sei das Konzept von Tocotronic Egozentrik. Alles drehe sich um Befindlichkeiten und Gefühlslagen und um die pubertäre Schräglage des Ich-Erzählers: Die Welt kann mich nicht mehr verstehen.
Nach dem dritten Album „Es ist egal, aber“ wandte sich die Band von ihrem LoFi-Rockmusikstil ab. Mit dem Album „K.O.O.K“ erfanden sie sich selber neu als Indie-Bombast-Rocker. „Eins zu eins ist jetzt vorbei“, sang Lowtzow in dem Song „Neues vom Trickser“. Statt von studentischen Identitätsproblemen zu singen, begaben sich Tocotronic jetzt „Hinein in einen Wald aus Zeichen“ („Hi Freaks“). Lowtzow entwickelte für seine Texte einen ganz eigenen Jargon der Uneigentlichkeit. Und dem bleibt er auch in seinem Tagebuch treu.
Eigentlich müsste jemand, bei dem das Ich eine so große Rolle spielt, ja prädestiniert sein für das Tagebuchschreiben. Denn in Tagebüchern geht es ja gerade um die Egoperspektive. Aber man muss sich als Tagebuchschreiber natürlich an der Meisterklasse der Diaristen messen lassen. Etwa an Ernst Jünger und dessen „Strahlungen“, die zwischen Kriegsgräueln, intellektueller Erbauung und Gartenarbeit pendeln. Mit denen hat Lowtzow ideologisch natürlich gar nichts gemeinsam. Aber eine Gemeinsamkeit gibt es doch: Den Sound der Erhabenheit. Der Supermarkt wird nicht „gebaut“, nein, er wird „erbaut“. Lowtzow „sieht“ nicht, er „erblickt“. Er „schaut“ nicht, er „lugt“. Bei Jünger wirkt das zeitgemäß, bei Lowtzow artifiziell und anachronistisch.
Was Jünger und Lowtzow außerdem noch verbindet, ist ihre Vorliebe für Gärten und Ordnung. „Seit meiner Jugend faszinieren mich Gemüsebeete“, schreibt er, „weil sie Ordnungssysteme sind.“ Aber Lowtzow spießt keine Käfer auf und sortiert sie dann in eine Schublade ein.
Irgendwie hat man beim Lesen das Gefühl, dass Lowtzow sein Tagebuch als eine Art Anti-Rainald-Goetz angelegt hat. Es ist das krasse Gegenteil von Goetz’ drogenverstrahltem Partydauerdilirium „Abfall für alle“. Während Goetz immer noch größeren Ausschlägen auf der nach oben offenen Erlebnis- und Gefühlsskala nachjagt, bewegt sich Lowtzow brav an deren Nulllinie entlang. Er fährt aufs Land, macht einen Spaziergang, geht Einkaufen oder schaut eine Ausstellung an. Sogar wenn er mit den anderen Bandmitgliedern im Studio aufnimmt, plätschert alles gemächlich vor sich hin.
Das Buch
Dirk von Lowtzow: Ich tauche auf. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2023. 240 Seiten, 22 Euro.
Auch dem Vergleich mit Thomas Kapielskis Kunst- und Biertrinker-Tagebuch-Meisterwerk „Sozialmanierismus“ hält Lowtzows Büchlein nicht stand. In „Sozialmanierismus“ säuft sich der Autor durch tausend merkwürdige Bierbuden, macht Kunst, treibt Philosophie und fährt ganz nebenbei seine Familie an die Wand. Kapielski rauscht ironisch palavernd weit unter die Nulllinie der nach unten offenen Absturzskala, dass es das reinste Vergnügen ist. Bei Lowtzow gibt es keine Drogen, nur manchmal Bier, aber eigentlich will er ja keinen Alkohol mehr trinken.
Er beschreibt eine Szene, in der Tocotronic einmal versuchten, sich im Hotel wie echte Rockstars zu verhalten. Das Zimmer verwüsten, den Fernseher aus dem Fenster werfen oder dergleichen. Weil die Band aber Rücksicht auf die anderen Hotelgäste nehmen wollte, warf sie nur die Sofakissen aus dem Fenster. Die machten keinen Krach. „Die zwei Wochen später eintreffende Reinigungsrechnung zahlte ich widerspruchslos.“ Irgendwie ist das ja auch sympathisch. Aber auch symptomatisch. Die radikale Verweigerung von Radikalität.
Manchmal versucht sich Lowtzow dann aber doch als Philosoph. Etwa am 3. November 2020. Es geht um die „Falle des binären Denkens“. Lowtzow schreibt: „Es gibt in ihm als mögliche Antworten nur ja oder nein. Es gibt in ihm nur Freunde und Feinde.“ Das sei ein Gefühl, wie am Vorabend eines Krieges.
Dirk von Lowtzow schreibt aus dem wehleidigen Herzen einer unter Druck geratenen Normalität heraus. Corona hat seine Nulllinie in Kipplage gebracht, seine Normalität ist ins Rutschen geraten. Weitermachen wie bisher funktioniert nicht mehr. Aber außer ein paar halbgaren Gedichten und Anekdoten ohne Pointe fällt Lowtzow dazu nichts ein. Auf das im Titel versprochene Auftauchen wartet man vergeblich. Tagebücher wie die von Ernst Jünger, Rainald Goetz oder Thomas Kapielski fokussieren sich auf das Eigentliche, auf die Pointe. Aber das ist in Dirk von Lowtzows Jargon der Uneigentlichkeit gar nicht darstellbar. He fades to grey, wie der Nebel im Wald der Zeichen, wie die Wolke der Unwissenheit. Und das rückt dieses Tagebuch näher an unsere diffuse Wirklichkeit als jedes andere Tagebuch. Es ist so langweilig, alltäglich, grau, unentschlossen und ereignisarm wie das ganz normale Leben.
Und am Ende wird der Autor 50 und preist das Glück beim Staubwischen und endet mit einem schönen Bild: „Das erste Licht des Tages bricht durch die Zweige, aber die Laternen rund um das Reiterstandbild glühen.“