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„Maschinenraum der Götter“ im Liebieghaus Frankfurt: Im Hintergrund rauscht Big Data

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Von: Lisa Berins

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Zweisprachige lexikalische Keilschrifttafel aus Mesopotamien, spätes 1. Jt. v. Chr. Foto: Metropolitan Museum of Art, NY
Zweisprachige lexikalische Keilschrifttafel aus Mesopotamien, spätes 1. Jt. v. Chr. Foto: Metropolitan Museum of Art, NY © Metropolitan Museum of Art, NY

Das Frankfurter Liebieghaus präsentiert in einer aufschlussreichen Ausstellung den „Maschinenraum der Götter“.

Goldene Roboter, die mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, Androiden, Raumschiffe, eine fliegende Drohne in Gestalt eines Adlers, der dem gefesselten Prometheus die Leber wegfrisst. Das ist Science-Fiction aus der Antike. Genauer gesagt: Es ist die griechische Mythologie, aus der Feder eines Homer und anderer Dichter, die schon im 6. und 7. Jahrhundert v. Chr. fiktive Hochtechnologie entworfen haben. Unsere Zukunft – sie wurde nicht erst in den vergangenen Jahren, Jahrzehnten oder ein bis zwei Jahrhunderten erfunden, das will die Ausstellung „Maschinenraum der Götter“ im Liebieghaus nahelegen: Sie hat ihren Ursprung in der Antike.

Zu einer Zeit, in der Forschung und Technik immense Sprünge machten, im Namen und im Dienste der Kunst. In der auf Grundlage eines großen Wissensschatzes über den Horizont hinausgedacht wurde. Natürlich, Raumfahrzeuge sehen heute anders aus, als in den antiken Schriften dargestellt, nicht unbedingt wie ein Feuerrad, das, mit dem König Ixion zur Strafe aufgeschnallt, auf ewig durch das All kreist. Mag sein, dass das Gedankenexperiment, frühe Visionen unserer heutigen, realen High-Tech-Entwicklungen in der griechischen Götterwelt zu suchen, erst mal gewagt erscheint. Aber warum nicht? In der von Vinzenz Brinkmann kuratierten Schau wirken die Kenntnisse vor tausenden von Jahren so breitgefächert und substanziell und fortschrittlich, dass man sich am Ende des Rundgangs fragt: Warum sind wir heute eigentlich erst da, wo wir sind – bei unausgereifter KI, fehlerhafter Robotertechnik und störungsanfälligen Computersystemen? Könnten wir nicht schon viel weiter sein?

Diese Ausstellung ist die Gelegenheit, sich im Spiegel von 5000 Jahren auch ein Bild des technischen Jetzt zu machen. Die Reise beginnt mit den Errungenschaften im 3. Jahrtausend v. Chr. in Ägypten und Mesopotamien, geht dann über die europäische Antike, wechselt mit dem Fluss des Wissens in den arabisch-islamischen Kulturraum, springt zur europäischen Renaissance und landet, etwas überraschend, bei Jeff Koons – was in einem Satz irrer klingt, als es sich in der Ausstellung anfühlt.

Der zeitgenössische US-amerikanische Künstler, der sich seit seiner Frankfurter Ausstellung 2012 im Liebieghaus und in der Schirn Kunsthalle mit den Häusern und der dort ansässigen Forschung verbunden sieht, hat seine Kunst nach etwas Überzeugungsarbeit implantieren dürfen – nun ist sie also da: ein motorisiertes Windspiel, das auf die platonischen Körper Bezug nimmt und in glitzernder Ästhetik in der Luft tanzt. Und das Werk „Apollo Kithara“, eine Statue des musizierenden Apollo, die in wissenschaftlich korrekter, in Acrylfarbe umgesetzter Polychromie in einem kapellartigen Raum steht. Neben dem Gott windet sich eine weiß-gelbe Python: züngelnd, den Schwanz kringelnd. Sie ist natürlich nicht echt, nur animiert und neu programmiert. Das Werk war im vergangenen Jahr schon bei einer Koons-Schau auf der griechischen Insel Hydra zu sehen.

Und auch hier: Warum nicht? Etwas Prominenz kann helfen, die Schwelle für die Besucherinnen und Besucher niedrig zu halten. In diesem Fall ist das vielleicht nicht ganz unwichtig, denn frühe Technik und Mechanik – ja, das Thema ist nicht direkt ur-sexy. Dem Respekt vor tatsächlich nicht einfacher Mathematik will Vinzenz Brinkmann, Sammlungsleiter der Abteilung Antike und Asien, aber gerade entgegenwirken, und zwar mit: Sensationen und Staunen. Folgt man aufmerksam den kleinen gelben Dreiecken – einem Leitmotiv der Ausstellung – wird man durch die verschiedenen Kapitel einmal quer durch das ganze Liebieghaus geschickt. 97 Exponate der „Maschinenraum“-Schau kann man dabei entdecken, sie sind als „Interventionen“ zwischen die ohnehin dort präsentierten Objekte arrangiert – gewissermaßen vor dem „Hintergrundrauschen“ der ständigen Sammlung, wie Brinkmann sagt. Manchmal muss man ein wenig suchen, aber Entdeckergeist ist für die Ausstellung ohnehin vorausgesetzt.

Es sind kleine Knalleffekte, die Brinkmann vor das große Ganze setzt. Eine babylonische Keilschrifttafel zum Beispiel mit einem mathematischen Satz der Geometrie aus dem 19. bis 17. Jahrhundert v. Chr. (eine Leihgabe der Yale Universität), der erst tausend Jahre später als „Satz des Pythagoras“ bekannt wurde. Oder die Rekonstruktion mechanischer Apparate, die um 500 v. Chr. (wahrscheinlich) verwirklicht wurden. „Wahrscheinlich“ deshalb, weil nur wenige Funde aus dieser Zeit erhalten sind und die ausgestellten Modelle nach den Beschreibungen in antiken Texten von Philon von Byzanz (3. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) und Heron von Alexandria (vermutlich 1. Jahrhundert v. Chr.) nachgebaut wurden. Es sind Zwischenergebnisse aktueller Forschungsarbeit.

In einem Projekt mit dem Metropolitan Museum of Art New York wurde ein weißes Abbild zweier Statuetten 3D-gedruckt; Kinder, die ein Rebhuhn jagen. Ihre Bewegungen variieren in winzigen Nuancen. Vermutlich waren sie Teil eines kinematografischen Wunderrads, das beim Drehen einen Bewegungsablauf zeigte und somit die Skulpturen animierte. Die Idee des bewegten Bildes – es gab sie also schon lange vor der Erfindung des Films im 19. Jahrhundert, und sie wurde mithilfe des damals hochentwickelten Technik-Wissens auch umgesetzt.

Ähnlich ist’s bei der Camera obscura: Auch sie wurde – Jahrhunderte vor der europäischen Renaissance – von dem Optiker, Mathematiker und Astronom Alhazen (um 965 bis um 1040) erfunden. Für die Ausstellung wurde dieser Meilenstein der Geschichte in begehbarer Größe nachgebaut – und zwar ungeschummelt ganz ohne Linse, wie Brinkmann betont.

Noch mehr mechanische Wundermaschinen: Mit einem – retrotechnisch wirkenden – Joystick navigiert man durch eine computeranimierte Visualisierung der Cenatio Rotunda, eines Bankettsaals des römischen Kaisers Nero. Der Saal saß auf einem riesigen Mechanismus und drehte sich fast unmerklich langsam. Bei Grabungen an der Palastanlage Domus Aurea in Rom wurde der Bau 2009 gefunden. Auch im Athener „Turm der Winde“, einem antiken Bauwerk des Astronomen Andronikos von Kyrrhos, hat sich womöglich schon eine „animierte“ Statue befunden: der sich – möglicherweise – drehende „Atlas Farnese“ aus Bronze. Aus dem archäologischen Museum in Neapel wurde eine Marmorkopie aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. herbeigeschafft. Der Titan trägt die Himmelsphäre mit 41 Sternbildern und zwölf Tierkreiszeichen auf seinen Schultern.

Der Himmel – er war der Anfang allen wissenschaftlichen Denkens. In der Antike zeigte die „Sphaira“, ein durch Gewichte oder Wasserkraft angetriebener Apparat, die – aus Sicht der Erde – korrekte Position von Planeten und Fixsternen. Einen „experimentellen Nachbau“ einer solchen Sphaira des Universalgelehrten Archimedes von Syrakus präsentiert die Ausstellung nun.

Jeff Koons’ „Apollo Kithara“. Norbert Miguletz/Liebieghaus
Jeff Koons’ „Apollo Kithara“. Norbert Miguletz/Liebieghaus © Norbert Miguletz/Liebieghaus

Eine weitere Sensation: das Rätsel um den „Mechanismus von Antikythera“. Es ist gelüftet – allerdings braucht man etwas Zeit, um die Lösung nachzuvollziehen. Vor 120 Jahren haben Schwammtaucher in einem antiken griechischen Schiffswrack mehrere oxidierte Bronzeklumpen gefunden. Nach und nach wurde klar, dass es sich um Relikte eines hochkomplexen, zahnradgetriebenen astronomischen Instruments mit erstaunlichen Funktionen handelt. Der britische Forscher Tony Freeth hat erst vor kurzem mit seinem Team zentrale Aspekte offengelegt. In kurzen Videos und Animationen präsentiert er die Ergebnisse. Selbst, wenn man’s nicht ganz versteht; es ist faszinierend, welche verschütt gegangenen, tiefgreifenden Kenntnisse über das Universum sich in diesem mysteriösen Gerät manifestieren. Das hat etwas Magisches.

Wo ist es nur hin, das ganze Wissen, die große Datensammlung zum Verständnis der Welt? Die Ausstellung zeigt: In der Spätantike war Schluss mit progressiver Vermessung und Erforschung, zumindest dort, wo sich die christliche Kirche ausbreitete. Und während im westlichen Europa Stillstand war, wurden im arabischen Raum, in Bagdad, Kairo, Damaskus und Samarkand die antiken Schriften übersetzt und mit ihnen weitergearbeitet.

Zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert entstanden neue Wissenszentren im arabisch-islamischen Kulturraum, Wissenschaftler verschiedener Ethnien trieben die Forschung voran, bauten Observatorien, konstruierten Präzisionsmessgeräte, Automaten und Uhrwerke, etwa die „Elefantenuhr“. Ihr Automatismus wird als animierte Zeichnung auf eine Leinwand inmitten von christlicher Kunst des Mittelalters projiziert. Irgendwann kommen dann wieder die Europäer ins Spiel; Leonardo da Vinci und Kopernikus. Ihre Erkenntnisse, die unseren heutigen Blick auf die Welt prägen - sie wären ohne das große Rauschen der arabischen „Big Data“ nicht möglich gewesen.

Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt: bis 10. September. liebieghaus.de

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