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Zwilling im Spiegel

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Von: Ulrich Seidler

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Sasha Marianna Salzmann.
Sasha Marianna Salzmann. © Heike Steiweg

"Außer sich": Die Dramatikerin Sasha Marianna Salzmann hat einen reifen ersten Roman geschrieben.

Die Erwartungen an das Romandebüt von Sasha Marianna Salzmann sind hoch, und sie werden nun mit „Außer sich“ mehr als erfüllt. Es erscheint geradezu selbstverständlich, dass das Werk auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht (heute erscheint die Shortlist, wir werden sehen). Die 32-Jährige ist schon lange im literarischen Geschäft erfolgreich. Sie hat in Hildesheim Literatur, Theater und Medien und an der UdK Berlin Szenisches Schreiben studiert, gründete mit ein paar Verbündeten die Zeitschrift „Freitext“, die sie zwölf Jahre lang redigierte, und sie gewann als Dramatikerin gleich mit ihrem ersten Abendfüller „Weißbrotmusik“ und später mit „Muttermale Fenster Blau“ und „Muttersprache Mameloschen“ wichtige Preise.

Sie scheint sich in den kollektiven Arbeitszusammenhängen, die eine Schriftstellerin eher am Theater vorfindet, wohlzufühlen. Sie gründete eine Schreibwerkstatt mit Maxi Obexer und leitet seit 2013 das Studio des Gorki-Theaters. Zur selben Zeit hatte sie ein Stipendium in der Kulturakademie Tarabya in Istanbul ergattert, der Stadt, die sie außer Berlin heute als ihren Wohnort angibt, und in der nun große Teile des Romans spielen.

Nicht nur handwerklich und betrieblich ist Salzmann alles andere als eine Anfängerin, auch das Thema von „Außer sich“ beschäftigt sie seit Beginn ihres Schaffens, nein, noch viel länger: seit ihrer Geburt – und wenn man den Gedanken der transgenerativen Weitergabe von Identität durch die Vererbung von Verletzungen und Gewohnheiten ernst nimmt, schon seit der Jugend ihrer Urgroßeltern. So weit reicht der autobiografisch inspirierte Text zurück.

Die Heldin – schon in der weiblichen Form des Wortes offenbart sich das Unzureichende der Sprache – heißt Alissa, später Ali. Sie ist, wie die Autorin, in Wolgograd geboren. Ihr Weg führt sie nach Moskau, von dort in eine niedersächsische Kleinstadt, wohin die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion auswandert – ohne dass Alissa wüsste, wie ihr geschieht. In der Fremde, und unter den Schlägen der deutschen Mitschüler, verschmilzt sie fast mit ihrem Zwillingsbruder Anton. In der Gegenwart des Romans ist Anton verschwunden, sein letztes Lebenszeichen kam aus Istanbul, wo ihn Ali nun sucht.

Der Leser wird bis zuletzt den Verdacht nicht los, ob Anton, ohne dass Ali das wüsste, vielleicht nur ihre Erfindung ist, ob er vielleicht nur das abgespaltene Spiegelbild von ihr ist, das einmal in eine Istanbuler Bar aufblitzt. Ein Bild, dass sie braucht, um sich selbst zu erkennen, wie es so schön einfach heißt.

Aber wie soll man sich selbst erkennen, wenn man als Kind entwurzelt wurde, immer wieder auf die jüdische Herkunft reduziert wird und sich zugleich lieber von ihr distanzieren soll? Was soll dieses Ich sein, wenn man noch nicht einmal weiß, ob es ein Er oder eine Sie ist? Und wie arm ist eine Selbsterkenntnis, die ein zuordenbares Geschlecht oder eine nationale oder religiöse Identität voraussetzt?

Statt alles über den Haufen zu werfen, macht sich Ali parallel auf die Suche nach ihrer Vorgeschichte. Sie fragt ihre noch lebenden Vorfahren über die schon toten aus, verzweifelt immer wieder daran, wie löchrig das sich aus den Bruchstücken zusammensetzende Bild ist, wie akausal sich die Lebensläufe entrollen – und wie sie sich zugleich als kohärent und vorherbestimmt aufspielen. „Immer wenn ich merke, dass es für Menschen eine Vorstellung von Welt gibt, auf die sie ohne Zweifel bauen, fühle ich mich allein.“ Diese Einsamkeit ist der Abgrund der Kontingenz, über dem man sich nur halten kann, wenn man die unerklärliche Fähigkeit der Kommunikation zwischen Individuen, ihre Sozialität, hinnimmt und ausübt – Ali sucht diesen Boden, und sie hackt ihn immer wieder auf.

Abgesehen davon, dass Salzmann farbig und sinnlich erzählt und den Leser souverän durch historische Stürme von der Russischen Revolution über den Zweiten Weltkrieg bis zu den Unruhen auf dem Taksim-Platz in Istanbul führt und diese Weltgeschichten mit den Biografien der Figuren verknüpft, hat sie im Wechsel der Erzählperspektive einen Hebel gefunden, mit dem sie ihre verkapselte Figur knackt. In der Gegenwart schreibt sie von ihr in der dritten Person, aber wenn sie mit ihren Verwandten spricht, sagt sie ich. Diese perspektivische Aufspaltung der Individualität stellt sich als eine literarische, wohl auch lebenspraktische Finesse heraus, mit der man zwar die Unschuld des Beisichseins verliert, andererseits analytische Reife des Außersichseins gewinnt, die einen befähigt Illusionen und Träume platzen zu lassen: „Mein Körper blieb starr vor Valja (der Mutter, d. R.) sitzen, während ich aus mir heraussprang, nach draußen, ich war außerhalb, das Zuhören konnte mir nichts mehr anhaben.“ Ein nächster Schritt für ein gelingendes Leben als integrierte Persönlichkeit – auch so ein küchenpsychologischer Begriff – wäre es vielleicht, Gnade und Rücksicht walten zu lassen. Mit den Vorfahren, mit den nahen Mitmenschen, aber vor allem mit sich. Ein verlogener Trost?

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