Zur Kritischen Hofmannsthal-Ausgabe: „Unbegreiflich, wo er das hernimmt“

Zum Abschluss der in Frankfurt entstandenen Hugo-von-Hofmannsthal-Ausgabe: Konrad Heumann und Katja Kaluga vom Freien Deutschen Hochstift über traumartiges Schreiben, fließende Identitäten und die fortwährende Veränderlichkeit eines Textes.
Langer Atem war erforderlich und vorhanden, um seit 1967 in 55 Jahren am Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt die Kritische Ausgabe der Werke von Hugo von Hofmannsthals zu fertigen. 40 Bände in 42 (!) Teilbänden – die umfangreichste Kritische Gesamtausgabe zu einem deutschsprachigen Autor, einer deutschsprachigen Autorin des 20. Jahrhunderts. Ein solches Projekt würde heute gar nicht mehr begonnen, sagt Konrad Heumann, seit 1995 dabei. Katja Kaluga stößt später zum Gespräch dazu. Zwei von 32, die über die Jahrzehnte mitgearbeitet haben.
Die Kritische Ausgabe ist im Jahr Ihrer Geburt gestartet worden, Herr Heumann. Man sagt, Übersetzungen altern sehr schlecht. Wie sieht es mit einer solchen Ausgabe aus?
Konrad Heumann Wir sind ganz gut durchgekommen, würde ich sagen. Es gab allerdings immer wieder unterschiedliche Vorstellungen, wie das riesenhafte Werk ediert werden sollte. Die ersten beiden Bände sind 1975 erschienen, acht Jahre nach dem Start. Bei der politischen Komödie „Timon der Redner“, auf deren Edition damals viele warteten, haben Sie knapp 90 Seiten Text und sechsmal so viel an Varianten und Erläuterungen. Das sorgte damals für Entsetzen. Im zeitgleichen Band „Erzählungen I“ ist das Verhältnis 50 zu 50. Schon in der Geburtsstunde der Ausgabe gab es also verschiedene Auffassungen. Die Frage war: Stellt man den Schreibprozess dar und sagt, dieser Seitenstrang ist gerade besonders interessant – oder geht man von einem fertigen Werk aus, das auch eine Genese hat. Die Gemeinsamkeit: Die Hofmannsthal-Ausgabe bietet immer vorne einen konstituierten Text als Lese- und Gesprächsgrundlage und dann erst die Varianten. Das ist natürlich eine Entscheidung.
Nicht zum Beispiel näher an die Handschriften zu gehen, wie es Stroemfeld gemacht hat, mit Kleist, Hölderlin oder Kafka.
Heumann Diese Autoren haben aber auch nicht so viel hinterlassen! Bei Hofmannsthal haben Sie ein echtes Mengenproblem. Es sind jetzt schon fast 30 000 Seiten Drucktext.
In den vergangenen gut 50 Jahren wird sich die Idee einer Kritischen Ausgabe gleichwohl verändert haben.
Heumann Bis in die 1990er Jahre hinein ist es im Kern ein geistesgeschichtliches Projekt. Da geht es um Literatur, die aus Literatur entsteht. Tatsächlich: Hofmannsthal schwimmt in der Weltliteratur. Immer ist schon etwas da, mit dem er dann arbeitet.
Bei den Bühnenwerken sind immer auch andere dabei, die mitreden, vor allem der Komponist Richard Strauss.
Heumann Genau, es geht bei Hofmannsthal oft von Anfang an um Diskussion und Austausch, mit Strauss bei den Opern, aber auch mit dem Regisseur Max Reinhardt oder dem Bühnenbildner Alfred Roller. Nehmen Sie Elfriede Jelinek. Die schreibt einen Text und sagt: Liebes Theater, nun macht damit, was Ihr wollt. Bei Hofmannsthal ist das vollkommen anders, er will und hat sofort ein Gegenüber. Er schreibt „Der Abenteurer und die Sängerin“, und der Regisseur Otto Brahm sagt: Sehr schön, einen der beiden Akte streichen wir aber. Kein Problem, sagt Hofmannsthal. Der Text ist für ihn nicht alles, es geht für ihn immer auch um die Wirkung auf einer konkreten Bühne. Für die Kritische Ausgabe ist das ein Problem. Alles bleibt veränderlich, nichts ist endgültig fertig.
Die Ausgabe konzentrierte sich also zunächst auf die literaturhistorische Perspektive, und dann?
Heumann Die Arbeit an den „Aufzeichnungen“, zwei schweren Bänden, hat das verändert. Sie enthalten alles unterhalb des eigentlichen Werkcharakters. Die Post-its am Kühlschrank sozusagen. Wir haben das alles zeitlich eingeordnet, eine irrsinnige Arbeit. Bei der sich ein ganz anderer Hofmannsthal zeigt, der Zeitung liest, sich im Hier und Jetzt für Realgeschichte interessiert. Dadurch hat sich unser Hofmannsthal-Bild ziemlich verändert. Jede Zeit hat ihre Blindheiten. Wenn Sie Hofmannsthal allein geistesgeschichtlich kommentieren, werden Sie sich beim Drehbuch zum Rosenkavalierfilm kaum für den fertigen Film interessieren, der dabei herausgekommen ist. Aber um den ging es Hofmannsthal selbstverständlich in allererster Linie.
So: Was hat Hugo von Hofmannsthal unserer Zeit zu sagen?
Heumann Seine Bildmächtigkeit, die Evokationskraft seiner Sprache ist auf jeden Fall sehr lebendig geblieben. Hofmannsthal ist ein höchst anregender Autor, um die Komplexität von Welt zu denken. Kaum jemand um 1900, behaupte ich mal steil, ringt so genau um eine Sprache der Selbstbeobachtung. Das ist die phänomenologische Ebene seiner Texte. Wie bewegen wir uns fühlend und sprechend in der Welt? Ganz konkret würde ich sagen: Die Operntexte funktionieren ungebrochen. Die Theaterstücke mit ihrem sehr ausformulierten Zeithorizont in unseren Tagen vielleicht nicht so sehr.
Katja Kaluga (ist soeben hereingekommen und sagt:) Die laufen derzeit in Bad Ischl und in Wien am Theater in der Josefstadt. Dabei ist es nicht so lange her, dass „Der Unbestechliche“ mit Peter Simonischek an der Burg zu sehen war.
Heumann Die Lyrik ist weiterhin wichtig. Wer Lyrik liebt und in ihr lebt, bei dem hat Hofmannsthal einen festen Ort. Und die Lyrik ist ja nicht tot, dafür kommt viel zu viel nach. Nehmen Sie zum Beispiel Rammstein, da gibt es in einem Lied den Vers „Manche führen, manche folgen“, den man sogar auf T-Shirts sehen kann. Das klingt irgendwie totalitär, zugleich erinnert es an Hofmannsthals Gedicht „Manche freilich müssen drunten sterben“ von 1895 und damit an ein dialektisches Programm von ästhetischer Führerschaft, das des Publikums bedarf. Rammstein scheinen Hofmannsthal gut zu kennen.
Und der politische Hofmannsthal?
Heumann Hofmannsthal versucht in Zeiten politischer Umbrüche zu überlegen, was diese Veränderungen bewirken werden. Die neuen Massenbewegungen, die Neuökonomisierung der Welt, das Zerfallen eines Vielvölkerstaats, die Reduktion auf ein Rumpfösterreich deutscher Provenienz. Hofmannsthal ist sich im Klaren darüber, dass in einer Welt der Nationalstaaten die Juden keinen Ort mehr haben werden. Und man kann es auch so sehen, dass Österreich-Ungarn immerhin ein Rechtsstaat war, was sich nicht über alle Nachfolgestaaten sagen lässt. Ein undurchsichtiges Feld.
Wie positioniert sich Hofmannsthal?
Heumann Er positioniert sich nicht so einfach. Er versucht sich eher mit den Mitteln seiner Kunst vorzustellen, was jetzt kommen könnte. Bei ihm gibt es ein Konzept von Europa als Überwindung der Nationalstaaten, das aber auch nicht so leicht zu fassen ist. Die Leute, die nach 1918 Europa sagen, sind sehr unterschiedlich. Nicht mit allen würden wir gerne an einem Tisch sitzen.
Kaluga Stichwort Kulturbund, in Paris gegründet. Da geht es um Europa, aber mit einer starken Affinität zum Faschismus. Es findet sich hier die buntgemischte Crème de la Crème des kulturellen Wiens der 20er Jahre.
Heumann Hofmannsthal taucht dort auf, sieht sich um, vernetzt sich und geht wieder weg. Sehr typisch für ihn.
Der soeben zum Abschluss erschienene Band, „Reden und Aufsätze 4“, enthält späte Texte. Welche sind heute besonders interessant?
Heumann Der Text zum Kino, „Der Ersatz für die Träume“ von 1921, ist bis heute sicher einer der stärksten Texte über die Suggestivität bewegter Bildern.
Kaluga Problematisch, aber interessant für die Epoche ist der mehrteilige Aufsatz über seine Reise durch Marokko. Ein historischer Blick, der zu den Bildern passt, die genau in dieser Epoche entstehen, etwa von Paul Klee oder August Macke.
Problematisch?
Kaluga Mit Blick auf das Vokabular, das N-Wort fällt, was soll man tun, der Text ist von 1926. Der Blick auf die orientalische Welt wird nicht hinterfragt, wird hingenommen als riesiges buntes Wimmelbild. An seine Frau schreibt er, er sei jetzt im Färberviertel von Marrakesch gewesen, und da sehe es genau aus wie in der „Frau ohne Schatten“. Er erkennt das wieder, was er vorher auf der Basis von „Tausendundeine Nacht“ erfunden hat. Anderes übersieht er völlig. Andererseits: Wie geht es uns, nach einer Zweiwochenreise?
Zur Sache
Die Kritische Hugo-von-Hofmannsthal-Ausgabe, eine Veranstaltung des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt, ist zwischen 1975 und 2022 im S. Fischer Verlag erschienen. Auf 28 500 Druckseiten sind fast 1100 Werke und Werkpläne versammelt: sämtliche veröffentlichte und nachgelassene Werke, Fragmente und Notizen des 1929 im Alter von 55 Jahren gestorbenen Schriftstellers. Das Hochstift hat unter zehn Direktoren und einer Direktorin Durchhaltevermögen bewiesen und dramatische Finanzierungskrisen bewältigt – vor allem musste der Ausstieg der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2008 kompensiert werden, unter anderem sprangen der Deutsche Literaturfonds und die S. Fischer Stiftung ein. Im Zuge der Ausgabe, eine Verabredung zwischen Familie, Hochstift und S. Fischer Verlag, entstand am Haus ein umfangreiches Hofmannsthal-Archiv, auch wesentliche Teile des Nachlasses liegen hier.
Konrad Heumann leitet seit 2009 die Handschriftenabteilung im Freien Deutschen Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum.
Katja Kaluga ist Redakteurin der Ausgabe und zuletzt Mitherausgeberin des Schlussbandes „Reden und Aufsätze 4“.
Der Blick auf viele Themen wandelt sich momentan. Wie würden Sie das bei Hofmannsthal einschätzen?
Kaluga Die Figuren überschreiten permanent Grenzen, sie handeln nicht im bürgerlichen Sinne, das ist schon in den frühesten Texten so.
Heumann Hofmannsthals zentrale Figuren befinden sich generell im Übergang, das zeichnet sie aus. Immer geht es darum, die verschiedenen Ich-Anteile kennenzulernen und in einer Identität zu verschmelzen, ohne etwas verleugnen zu müssen. Polyamorie spielt gerade in den Libretti und den Lustspielen eine erhebliche Rolle, am Ende wird dann vielleicht geheiratet, vorher fällt aber glücklicherweise der Vorhang. Auch die sexuelle Identität ist im Fluss. Auch wissen die Figuren nicht so recht, auf wen sich das Begehren eigentlich richtet, Crossdressing spielt eine Rolle. Interessant ist auch eine Figur im „Andreas“-Roman, die aus zwei Persönlichkeitshälften besteht, Maria und Mariquita, die eine eindeutig weiblich und asexuell, die andere „mannweiblich“ und libertin. Die Idee von starren geschlechtlichen Identitäten empfand Hofmannsthal als ziemlichen Unfug.
Die Begriffe Fragment und Entwurf fielen schon. Wesentlich für Hofmannsthal und für die Ausgabe.
Heumann Wobei die Kritische Ausgabe zunächst meist sehr auf Lesbarkeit achtet. Der „Andreas“-Roman ist dafür das beste Beispiel. Beim Lesen denken Sie zunächst: Prima, das ist passagenweise ja fix und fertig. Dann gehen Sie an die Handschriften und sehen, dass es fertig ist, weil der Editor etwas Fertiges daraus gemacht hat.
Kaluga Es gab und gibt die Sehnsucht nach einem Roman mit Anfang und Ende, wie man es von Thomas Mann kennt. So hätten wir das gerne, 1000 Seiten „Josef und seine Brüder“. Aber Hofmannsthal bietet das nicht.
Ist das Konzept? Eine Folge maßlosen Einfallsreichtums?
Heumann Ich würde sagen: Hofmannsthal folgt der Dynamik seines Materials, das er immer wieder neu taxiert: Wird daraus noch ein Ganzes? Sind die Fliehkräfte zu groß? Sollte ich einen Teil vielleicht schon publizieren und dann neu anfangen?
Kaluga Aber es gibt auch das andere, „die Überfülle der Gestalten“, heißt es einmal in einem Brief. Diese Überfülle bedrängt ihn, er muss notieren, notieren, notieren. Und sei es auf einer Eintrittskarte, auf einer Wanderkarte.
Es geht ihm so leicht von der Hand? Beneidenswert.
Kaluga Oft werden Sie aber auch den Satz lesen: Ich schaffe das nicht. Ich habe nur noch drei Tage. Das ist zum Teil eine furchtbare Quälerei, gerade bei termingebundenen Zeitungsaufsätzen.
Heumann Es gibt Schreibblockaden, teilweise über Monate, bis zur Jahrhundertwende ist aber etwas anderes auffallend, das traumartige Hinschreiben von Hunderten von Versen in wenigen Tagen. Sehr, sehr viel und sehr, sehr gut. Unbegreiflich, wo er das hernimmt.
Kaluga Nach 1900 wird die Form größer. Er hat jetzt Familie, muss seine Existenz finanzieren. Die Familie hat im Börsenkrach von 1874 viel Geld verloren. Gefühlt jedenfalls hatte Hofmannsthal immer Geldsorgen, dabei hohe Ansprüche.
Vielleicht noch zwei, drei Lesetipps: Überschaubare Texte, auf die man nicht unbedingt kommt.
Kaluga „Der Abenteurer und die Sängerin“, ist natürlich ziemlich bekannt.
Geht so. Und warum?
Kaluga Ich mag Hofmannsthals Fähigkeit, ins 18. Jahrhundert zu schauen und seine sehr große historische Detailkenntnis perfekt zu nutzen. Er führt vor, was in der Welt der Mozartopern noch alles passiert sein könnte. Und ich würde gerne noch den „Rosenkavalier“ empfehlen.
Nicht unbekannt.
Kaluga Aber man versteht in der Oper selten den gesungenen Text.
Heumann Käthe Gold und Helmut Qualtinger haben den „Rosenkavalier“ als Sprechstück aufgenommen, das kann man sich auf Youtube anhören. Eine neue Perspektive auf den Text und seine unglaubliche Qualität. Und ich rate unbedingt zum „Andreas“. Mir fällt kein anderer Text ein, in dem in der Nachbarschaft von so viel zarter, feinster Beobachtung solche Gewalttätigkeit sich findet. Nehmen Sie die Szene, in der ein Mann einem Papagei den Kopf abbeißt. Mir fehlen die Heavy-Metal-Kenntnisse, aber war es nicht Ozzy Osbourne, der sich auf offener Bühne eine Fledermaus geben ließ und ihr den Kopf abbiss? Und ich nenne nochmal „Der Ersatz für die Träume“. Diese elementare Erfahrung von Kinogucken vor hundert Jahren passt doch in eine Zeit, in der sich das Kino wieder einmal häutet.
Gibt es nach all den Jahren noch letzte Rätsel?
Heumann Wie kann das alles in einer einzigen Person stattfinden? Die Ausgabe ist nun fertig, jetzt gilt es, diese Person zusammenzudenken, zumal die große Biografie bis heute aussteht, die Lebensgeschichte und Werk zusammenbringt.
Kaluga Als Redakteurin dachte ich jetzt sofort: Was könnten wir nicht kommentiert haben, außer vielleicht ganz vorne in den ersten Bänden? So unterschiedlich denkt man über Rätsel.
Heumann Der Triumph ist, dass alle Werke einmal eingeordnet sind. Und das muss man jetzt in den Fluss bringen und vertiefen. Es ist ein Abschluss, aber auch ein Anfang.
Wie geht es nun weiter?
Heumann Am 1. März haben wir mit einer Digitalisierung des gesamten Nachlasses begonnen. Fotos der einzelnen Blätter, die wir mit der Kritischen Ausgabe verknüpfen. 2024, zum 150. Geburtstag, sollte das ins Netz gehen können. Damit haben Sie ein sehr mächtiges Rechercheinstrument, um sich Hofmannsthal von den verschiedensten Seiten zu nähern.
Kaluga Und vielleicht finden wir noch ein Rätsel, dessen Lösung wir uns für die Ausstellung zum 150. aufheben können.
Interview: Judith von Sternburg

