Zum Tode von Roberto Calasso: Von Göttern, Menschen und Wölfen

Zum Tode des großen Erzählers Roberto Calasso.
Roberto Calasso (1941-2021) war der beste Verleger der Welt. Es gibt Verleger, die müssen sich gegen religiösen oder staatlichen Terrorismus zur Wehr setzen. Vielleicht sind sie die besten. Aber wer das Programm seines Mailänder Verlages Adelphi Edizioni betrachtet, der wird nirgendwo ein interessanteres finden.
Das sei Geschmacksache, sagen Sie. Zu Recht. Verlegen ist Geschmackssache. Es geht um Liebe dabei – um Treue und um Treulosigkeit also. Um die Neugierde, die einen umtreibt, die Leserinnen und Leser mitreißt in immer neue unentdeckte Landschaften. Mitten in diesen Wechselbädern von Einsichten und Gefühlen aber bleibt durch alle Metamorphosen hindurch das Programm unverwechselbar wie ein Mensch.
Adelphi Edizioni legte eine Nietzsche-Gesamtausgabe vor, die besser war als jede andere der damaligen Zeit. Daneben gab es den ganzen Simenon, Leonardo Sciascia, Simone Weil und die Vorsokratiker, Die Autoren der Wiener Moderne, Robert Walser und Joseph Roth, Thomas Bernhard, Nabokov und die Bücher von Richard Feynman und Oliver Sacks. Das alphabetische Autorenverzeichnis, das mit Stefan Zweig endet, beginnt mit Edwin Abbott Abbott, dem Theologen, der 1884 in seinem Roman „Flatland“ das Bild einer zweidimensionalen Welt entwarf. Es sollte uns daran erinnern, wie beschränkt wir denken, wenn wir nicht über drei Dimensionen hinauskommen.
Belletristik, Mathematik und Mythen, Geistes- und immer auch die Naturwissenschaften, Religion und Gesellschaft – das alles erschien nicht nur in diesem Verlag. In ihm gehörte es zusammen. Unter den Neuigkeiten dieser Saison stehen „Allgemeine Relativität“ von Carlo Rovelli, der zweite Band von Samuel Becketts Briefen und Matteo Codignolas „Cose da fare a Francoforte quando sei morto“. Witz gehörte für Calasso definitiv dazu. Offenbar bis ans Ende. Zu den großen Namen des Verlages gehören die Erzählerin Fleur Jaeggy, die 1940 in Zürich geborene Partnerin von Roberto Calasso, und natürlich er selbst.
Roberto Calasso, der am Mittwoch 80-jährig in Florenz gestorben ist, war ein analytischer Kopf, der einem in ein paar Sätzen etwas erklären konnte, und er war ein Erzähler, der niemals müde wurde in immer neuen Gefilden immer neue Wege aus dem heraus zu suchen, in dem er gefangen war. Er tat das als Nacherzähler. Mythen aus dem alten Griechenland beschwor er, bis sie uns halfen, unsere Gegenwart zu erkennen. Er erzählte uns die 3000 Jahre alten Geschichten der indischen Veden auf mehr als 500 Seiten, bis wir in deren „Glut“ versanken und so die Flüchtigkeit unseres eigenen Gewichts erkannten. Es geht um Ferne und Nähe. Wie weit muss man gehen, um bei sich anzukommen?
„Es gibt eine Handlung, die die ganze indoeuropäische Welt unauflöslich verbindet: das Trankopfer.“ So schreibt Calasso in „Die Glut“. Mit einem Mal sehen wir den Trinkspruch des Brautvaters und die Geste, mit der in Russland die Trinker die niemals völlig geleerten Wodkagläser hinter sich werfen, mit anderen Augen. Nichts ist nur das, was es ist. Alles ist ein Relikt von etwas, das einmal war, und ein Vorschein von etwas, das einmal sein wird. Die Gegenwart ist ein Durchgangsmoment: flüchtig, aber gedrängt voll mit Geschichte und einer fast gänzlich verschlossenen Zukunft.
Das heißt auch, dass Identität eine flüchtige Erscheinung ist. Es gab eine Zeit, so erzählt Calasso einem Schamanen nach, in der die Toten und die Wölfe eins waren. Nur noch Mensch und nur noch Wolf zu sein, ist ein Unglück. Die Wölfe, die einst Menschen waren, sind verzweifelt und laufen allein in den Wäldern herum auf der Suche nach Menschen. Die Menschen aber, die Wölfe sein wollen, setzen sich Masken auf, um wenigstens auszusehen wie Wölfe.
Neunhundertvierundsiebzig Generationen bevor die Welt geschaffen wurde, gab es die Torah. Sie wurde mit schwarzem Feuer auf weißes Feuer geschrieben, erzählt Calasso in „Das Buch der Bücher“. Es gibt zwei Arten, sie zu lesen. Man kann sie Wort für Wort lesen oder aber als Kontinuum. Man ist versucht – Calasso erwähnt diese Versuchung nicht – an den Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik zu denken.
Adorno beschrieb einmal eine Begegnung mit Charlie Chaplin. Sie hatten einander die Hand gegeben. Chaplin, so Adorno, habe dem Impuls, ihn nachzuahmen nicht widerstehen können. Adorno erkannte sich in Chaplin. Nichts anderes macht der Nacherzähler. Die alten Geschichten sind wie Übungen, die Nerven und Muskeln in uns anspringen lassen, von deren Existenz wir nichts wussten oder die wir doch viel zu lange vergessen hatten. Über Adornos „Minima Moralia“ schreibt Calasso: Der habe sie nicht wirklich gelesen, den sie nicht eine Weile lang gezwungen hätten, noch auf die harmlosesten Geschehnisse des Alltags mit Entsetzen zu schauen. In der Lässigkeit, mit der man eine Kühlschranktür einschnappen lässt, ist die Lust am Ausleben ungehemmter Herrschaft zu erkennen. Man verliere dieses Entsetzen wieder, schreibt Calasso. Beginnt man wieder, in dem Buch zu lesen, stellt es sich wieder ein.
Die Beschreibung erzeugt in einem Schock das Entsetzen. Sie fixiert es aber auch. Wir können es ansehen. Wir erfahren, dass wir es überleben. Roberto Calassos Nacherzählungen von den Gemetzeln, in denen Götter Götter besiegen, von Heldenliedern, die das Abschlachten ganzer Völker feiern, sind immer beides. Sie nähren den Schrecken und sie helfen, ihn zu überleben.
Calasso zitiert den indischen Herrscher Ashoka, der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert in Felswände einmeißeln ließ: Er habe mit seinen Eroberungen Massaker und große Verbrechen begangen. Er werde das nicht mehr tun. In Zukunft werde er dem Dharma folgen, also der Güte, der Großzügigkeit, der Wahrheit und der Reinheit. Er werde das Gute fördern und milde sein. Dieser zweite Ashoka war das Ergebnis des ersten und niemand weiß, wie der dritte Ashoka gewesen wäre.
„Schicksalstafel“ heißt ein Buch, das Calasso 2020 veröffentlichte. Es erzählt von der babylonischen Sintflut, von Sindbad dem Seefahrer, und es endet – ein wenig verkürzt – so: „Alle Götter, die Du antreffen wirst, überall auf der Welt, wurden alle aus derselben Substanz geschaffen. Ein einziger, riesiger leuchtender, rotierender Strang, von dem immerfort Stränge sich lösen, die wiederum kleine leuchtende Stränge hinter sich lassen. Das ist das Leben der Götter – sagte Utnapishtim... .“ – „Ich bin schon seit so vielen Jahren hier und kenne die Antworten nicht. Ich habe mir abgewöhnt, nach Antworten zu fragen. Ea hat mir keine Weisheit gegeben, dafür aber das ewige Leben. Die Weisen, die ab und zu bei mir vorbeikommen, haben sie Antworten? Ich bezweifle das. Vielleicht denken sie, die Welt ist nicht geschaffen, um Antworten zu geben.“ Utnapishtim zu Sindbad: „Ich weiß, dass Du abreisen wirst. So hast Du es immer gemacht. Auch ich werde tun, was ich immer getan habe: am Leben bleiben.“