Zum Tod von Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter für die Debattenkultur

Als Herausgeber der Zeitschrift Merkur bestimmte er lange die intellektuelle Kultur des Landes mit. Nun ist Karl Heinz Bohrer im Alter von 88 Jahren gestorben.
Intellektuelle Debatten waren sein Metier, und wenn Karl Heinz Bohrer in schöner Regelmäßigkeit die denkerische Elite des Landes an den furchteinflößend großen Redaktionstisch des „Merkur“ einlud, mochte er sich nicht mit langen Vorreden aufhalten. Wir müssen diskutieren, sagte er dann mit unverkennbar rheinischem Akzent und spürbarer Ungeduld. Viele der Gäste waren Autoren der Zeitschrift, die er als Herausgeber 1984 von Hans Schwab-Felisch, zunächst noch in München, übernommen hatte und zusammen mit Kurt Scheel in Berlin zu einem führenden Intelligenzblatt des Landes ausbaute.
Im „Merkur“ zu schreiben, war für viele Ansporn und Ehre. Der Anspruch der „deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, wie es im etwas antiquiert daherkommenden Untertitel heißt, war jedoch alles andere als die Vermittlung des Eindrucks einer geschlossenen Gesellschaft. Mit eigenwilligen politischen Interventionen, zum Beispiel einer grimmigen Analyse deutscher Stillosigkeit, stellte Karl Heinz Bohrer selbst immer wieder seine geistige Offenheit und Unabhängigkeit unter Beweis.
Wichtiger als geselliges Zusammensein waren bei den „Merkur“-Gesprächen in der Berliner Mommsenstraße, die von einer kargen Vornehmheit geprägt waren, die streitbaren Positionen, die sich hier zu behaupten hatten, ehe sie später sorgsam durchdacht in Textform artikuliert werden konnten. Nicht selten dienten die Runden als Vorbereitungen für nachfolgende Themenhefte, mit denen der „Merkur“ gesellschaftspolitische Akzente zu setzen versuchte und dabei die Energie des zweiten Blicks präferierte. Mal ging es um die erstaunliche Wiederkehr der Religionen in der vermeintlich säkularen Welt, mal um die Aktualität des Dekonstruktivismus französischer Prägung. Der Heft-Titel „Kapitalismus oder Barbarei?“ formulierte nicht wirklich eine Frage. In theoretischer Hinsicht war man im „Merkur“ mit allen Wassern gewaschen, verdächtig aber waren Bohrer und Scheel jegliche Formen selbstgerechter Theorie- und Kunstgläubigkeit.
Als streitbarer Autor war Bohrer bereits Ende der 70er Jahre mit seiner Habilitationsschrift „Ästhetik des Schreckens“ über das Werk von Ernst Jünger in Erscheinung getreten. Sein bevorzugtes Interesse für das Ästhetische gegenüber dem Politischen ließ ihn vor allem im linken Milieu als problematischen Zeitgenossen erscheinen. Er selbst indes verabscheute derlei Kategorisierungen und legte Wert auf seine frühere Freundschaft mit Ulrike Meinhof, ohne je deren aggressiv-radikales Weltbild geteilt zu haben. Eines seiner bekanntesten Bücher trägt den Titel „Plötzlichkeit“, in dessen erstem Kapitel es um „Ausfälle gegen die kulturelle Norm“ geht, die Bohrer bei aller literaturwissenschaftlichen Genauigkeit nahezu programmatisch für sich beanspruchte.
Seit den späten 60er Jahren hatte Karl Heinz Bohrer für das Feuilleton der FAZ geschrieben, als deren Literaturredakteur war er unmittelbarer Vorgänger von Marcel Reich-Ranicki, der Bohrer bezichtigte, Literaturkritik mit dem Rücken zum Publikum zu betreiben. Was durchaus als bissiger Seitenhieb gemeint war, ließ Bohrer später als stimmige Beschreibung durchgehen. Eine gefällige Literaturkritik, die vor allem einem Servicegedanken verpflichtet sein sollte, war seine Sache nicht.
Nach der kurzen Episode in der Literaturredaktion der FAZ war Bohrer als deren Korrespondent nach London gewechselt, wo er seither bevorzugt lebte, über viele Jahre zusammen mit seiner Frau, der 2002 gestorbenen Schriftstellerin Undine Gruenter. In den Berliner Redaktionsräumen des „Merkur“ stand für Bohrer lediglich eine Schlafcouch bereit, während Kurt Scheels Wohnung gleich nebenan über eine Verbindungstür zur Redaktion verfügte. Im Dienst der Ideen, konnte man daraus schließen, gestand man sich so gut wie keine Privatheit zu.
London indes war für Bohrer mehr als ein Wohnort. Aus einer tief empfundenen Verbundenheit mit den demokratischen Traditionen des Empires sowie einer leidenschaftlich gelebten Lust an der Debatte blickte er von der Themse aus oft mitleidig auf die deutsche Provinzialität. Ein Mitstreiter im Geiste war für Bohrer der frühere FDP-Mann und Soziologe Ralf Dahrendorf, der als Lord Dahrendorf Mitglied des britischen House of Lords war und auch häufig als Autor im „Merkur“ reüssierte.
Nachdem Bohrer und Scheel, der sich 2018 das Leben nahm, die Leitung des „Merkur“ 2011 an Christian Demand und Ekkehard Knörer übergeben hatten, veröffentlichte Bohrer kurz darauf die Erzählung „Granatsplitter“, die zwar deutliche Bezüge zur Lebensgeschichte Bohrers aufweist, die dieser aber nicht autobiografisch gedeutet wissen wollte. Vor allem sei es ihm darum gegangen, die Atmosphäre, Stimmungen und Gedanken einer vergangenen Zeit aufleben zu lassen.
Zweifellos war die durchlebte Kriegskindheit der Grund dafür, dass sich Bohrer in immer neuen Anläufen mit dem Zersplitterten und Gefährlichen auseinandergesetzt hat. Von seinem Kölner Tonfall indes ging eine Nähe und scheinbare Gemütlichkeit aus, die sich der Ästhet, der er war, verbot. Am Mittwoch ist Karl Heinz Bohrer, wie der Suhrkamp-Verlag am Donnerstag mitteilte, im Alter von 88 Jahren in London gestorben.