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Der Zufall ist ein exzellenter Bibliothekar

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Der vielsprachige Vielleser Alberto Manguel kann auf alles neugierig sein und alles miteinander schneiden, auch Alice im Wunderland mit Dantes "Commedia".
Der vielsprachige Vielleser Alberto Manguel kann auf alles neugierig sein und alles miteinander schneiden, auch Alice im Wunderland mit Dantes "Commedia". © imago/United Archives International

Alberto Manguels „Geschichte der Neugierde“ ist ein episodisches Welt-Buch. Und eine großartige Hymne an das Lesen und an das Erzählen.

Von Sven Hanuschek

Neugierde ist eine menschliche Eigenschaft, ohne die wir immer noch auf den Bäumen säßen. Die Neugierigen sind aber immer auch angefeindet worden – säßen wir ohne sie doch womöglich noch unter den Bäumen des Paradieses…

Die Psychologie spricht vom „Pandora-Effekt“: Wir wollen’s wissen, und wenn es uns schadet. Es gibt genug sprichwörtliche, ja mythische Fälle, den Garten Eden, Pandoras Büchse, Blaubarts Zimmer. Oder Pauline aus dem „Struwwelpeter“, die allein zuhaus war. Immer gab und gibt es Wissen, das Eltern, Göttern, Männern usf. vorbehalten sein soll, und zugehörige Dekrete.

Von all dem ist in Manguels „Geschichte der Neugierde“ gar nicht so hauptsächlich die Rede, wie der Titel erwarten ließe. Er fragt schon nach den immer neuen Grenzen, die durch das Streben nach Wissen überschritten werden, und er unterscheidet Neugierde als vanitas (etwa beim Turmbau zu Babel) und als umilità (wenn wir nur so viel von der göttlichen Weisheit wollen, wie wir auch verstehen können).

Aber für den kursorischen Überblick von Aristoteles und den Kirchenvätern bis zu den Enzyklopädisten braucht Manguel gerade mal die ersten beiden seiner 17 Kapitel. Ein systematisches Buch über die Neugier hat er nicht geschrieben, das Original heißt nur „Curiosity“; der Verlag verweist mit dem deutschen Titel auf Manguels Bestseller „Eine Geschichte des Lesens“ (1998).

Dante, Alice, Don Quijote

Stattdessen unternimmt er eine sprunghaft-kurzweilige Wanderung durch Aspekte von Neugier, durch sein Leben und durch Dantes „Commedia“. Jedes Kapitel wird mit einem Holzschnitt aus einer frühen Ausgabe der Dichtung eröffnet und mit einer zentralen Lebensfrage – in der Art von: „Was machen wir hier?“, „Wie ordnen wir die Welt?“, „Was ist Wahrheit?“

Nach kurzen autobiographischen Abschnitten mit Kindheits- oder Schulerinnerungen, Reminiszenzen an frühe Lektüren, den Bericht von einem kleinen Schlaganfall versucht Manguel, diese großen Fragen mit einem Mosaik von Reflexionen, Lektürenotizen und eben mit Dante zu beantworten – oder doch neu zu stellen. Auch die „Commedia“ wird nicht systematisch abgehandelt, sondern erzählerisch vergegenwärtigt.

Warum ausgerechnet Dante? Er gilt Manguel als beispielhafter Neugieriger, der aus mehr als dreißig Jahren seiner Alltags-Beobachtungen immer neue poetische Bilder gewinnt. Vor allem vertritt Manguel die Auffassung, jede Leserin, jeder Leser entdecke irgendwann in seinem Leben „dieses eine Buch, das sie wie kein anderes dazu befähigt, die Welt und sich selbst zu erforschen“. Dieses Buch ist für ihn die „Göttliche Komödie“, die frühere Lieblingsbücher, Montaignes „Essais“, „Alice im Wunderland“, den „Don Quijote“ und „1001 Nacht“ abgelöst hat.

In der Tat knüpft Manguel also an seine Bücher über das Lesen an, an die „Geschichte des Lesens“ ebenso wie an „Im Spiegelreich“ (2000), „Die Bibliothek bei Nacht“ (2005), „Eine Stadt aus Worten“ (2011). Auch das neue Buch ist eine Hymne an das Lesen, an das Erzählen, das erst dem wilden Wald der Welt Sinn verleihen kann, sogar eine „Art der retrospektiven Unsterblichkeit“, weil wir unwillkürlich alle gelesenen Geschichten und ihre Konsistenz-, also Sinnstiftung auf uns beziehen.

Alberto Manguel ist ein überaus belesener Erzähler, dem zu seinen Leitfragen mit Dantes Hilfe viel einfällt, von den Sophisten zu den Realisten und Nominalisten, von Oppenheimer zu Proust, von der Quipu-Schrift der Inka zu der mutigen und unglücklichen Olympe de Gouges, die vergeblich versucht hatte, die Französische Revolution auch für die Freiheit der Frauen zu drehen. Manchmal sind diese Assoziationen allzu mäandernd, fast beliebig: „Der Zufall ist ein exzellenter Bibliothekar“, schreibt er. Schon, aber nicht durchweg.

Meistens folgt man den anregenden Gedankengängen gern. Schließlich ist der vielsprachige, in Argentinien geborene Frankokanadier Manguel auch ein politischer Kopf, ein Romancier, der Philosophie und Alltagsleben, Dante und Alice im Wunderland verschneiden kann. Er hat nicht weniger vorgelegt als ein episodisches Welt-Buch, das sich aus den zugehörigen Irrtümern speist, ein Buch als Ergebnis seiner Lebens-Suche, „voller Ablenkungen, Nebenpfade, Rückbesinnungen, geistiger und materieller Hindernisse und gesäumt mit eigentümlichen Fehlurteilen, die trotz ihrer offensichtlichen Unrichtigkeit etwas Wahres enthüllen können.“

Die „Geschichte der Neugierde“ demonstriert, warum man sich den wichtigen Weltdeutungen (wie der „Commedia“) aussetzen sollte. Sie steckt voller Sentenzen, die selten apodiktisch sind, weil sie Montaignes Wahlspruch treu bleiben – que sais-je? Was weiß ich schon? Es bleibt Manguel bewusst, dass die Narrative, zu denen wir unsere Welt ordnen, Täuschungen sein können. Aber mehr ist für die Letzten Fragen eben nicht zu haben.

Alberto Manguel: Eine Geschichte der Neugierde. Aus dem Englischen von Achim Stanislawski. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2016. 528 Seiten, 24,99 Euro.

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