Zorn und Zeit

Vollständig auf Deutsch: Der Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und Thomas Mann. Ein brisantes Zeitdokument, dass die Absurdität ihrer Kontroverse zeigt. Von Jürgen Otten
Von Jürgen Otten
Fast zehn Jahre lang lebten Arnold Schönberg und Thomas Mann nur wenige Häuserblöcke entfernt an der Küste des Pazifik. Eine engere Beziehung entwickelte sich zwischen den beiden nie. Zu unterschiedlich waren ihre Ansichten, zu different die Charaktere. Hier der Charismatiker und bald schon unangetastete Herrscher über die deutsche Exilliteraturszene, dort der am ungewohnten Ort stets etwas unsicher und unglücklich wirkende Tonsetzer.
Erstmals liegt nun der komplette Briefwechsel zwischen Schönberg und Mann auf Deutsch vor. Herausgegeben hat ihn ein Enkel Schönbergs. Auf den ersten Blick wirkt die Ausbeute schmal: Das Buch versammelt 14 Briefe des Schriftstellers und 15 des Komponisten, bisher sind insgesamt nur fünf publiziert worden. Was diesem Briefwechsel, der mit ausgewählten Tagebuchnotizen Manns und für das Verständnis ihrer Kontroverse wichtigen Schriften der Kontrahenten angereichert ist, den Rang eines brisanten Zeitdokuments verleiht, ist die Art und Weise, wie Schönberg und Mann aneinandergeraten, und die Absurdität ihrer Kontroverse.
Diese entzündet sich an einem Brief Schönbergs vom 28. Dezember 1938. Schönberg entwirft in groben Zügen die Konturen eines "Vier-Punkte-Programms für das Judentum", eines Traktats, den er im Oktober 1938 verfasst und vergeblich zu publizieren versucht hat, und bittet Mann um Mithilfe bei der Veröffentlichung.
Die Schrift, so überladen und pathetisch sie in weiten Teilen sein mag, ist an Hellsichtigkeit kaum zu überbieten. Schönberg ahnt bereits das Grauen, das den Juden erst noch bevorsteht: "Gibt es Raum in der Welt für nahezu sieben Millionen Menschen? Sind sie zur Verdammnis verurteilt? Werden sie ausgelöscht werden? Ausgehungert? Geschlachtet?" Man liest diese Sätze noch heute mit Schaudern.
Thomas Mann liest den Text mit Befremden, seine Antwort fällt schroff aus: "Mein inneres Verhalten dazu wechselte zwischen der beifälligsten Zustimmung und einer gewissen Bestürzung über eine oft etwas gewalttätige Allüre, und zwar sowohl im einzelnen, polemischen Ausdruck wie auch in der geistigen Gesamthaltung, die ja ohne jeden Zweifel ins Fascistische fällt." Das ist starker Tobak, der kaum gemildert wird durch den Satz, Schönberg möge ihm den Ausdruck ("Fascistische") verzeihen, "der sachlich natürlich durchaus nicht am Platze ist, aber was ich meine, ist ein gewisser Wille zum Terrorismus, der in meinen Augen ein Kondeszendieren zur fascistischen Haltung bedeutet". Seltsam genug: Schönberg nimmt die Kritik an, beharrt aber auf seiner Position. Nicht er selbst sei es, der schreie, so der Komponist: "Die Wahrheit schreit".
Schon hier wird etwas spürbar, was sich in den kommenden Jahren zu einem tiefen Graben auswachsen wird: die kulturell-habituelle Differenz zwischen Schönberg und Mann. Während Letzterer selbst unter größtem Druck der Anschuldigungen (und davon wird es spätestens nach Erscheinen seines Romans "Doktor Faustus" im Jahre 1947 einige geben) nicht zusammenzuckt, sondern mit Noblesse seine Repliken formuliert, mischt der Komponist, einmal angestachelt, stets ein wenig Gift in seine Briefe.
Im Grunde geht es um den "Doktor Faustus". Zwar hat Schönberg, erstaunlich genug, den Roman nicht gelesen. Gleichwohl erzürnt ihn die Möglichkeit, Mann könnte ihn gemeint haben mit der Figur des Adrian Leverkühn; ferner habe Mann nicht erwähnt, dass jene Kompositionstechnik, die im 22. Kapitel von "Doktor Faustus" skizziert wird, seiner, Schönbergs, "Methode des Komponierens mit zwölf Tönen" nachempfunden sei. Während Mann konzediert, dass die Dodekaphonie geistiges Eigentum Schönbergs sei und dies in weiteren Auflagen des Romans als editorische Notiz auch anfügt, finden sich weder in den Briefen noch in den Tagebüchern und schon gar nicht im Roman selbst stichhaltige Belege für die These, Leverkühns Alter ego sei Arnold Schönberg. Und doch schäumt dieser, als man ihm zuträgt, der Charakter des Anti-Helden ähnele dem seinigen.
Was ihn aber vermutlich noch mehr aufregt, ist die Tatsache, dass Theodor W. Adorno dem Schriftsteller beratend zur Seite stand und wesentliche Passagen kohärent zu Teilen aus Adornos "Philosophie der neuen Musik" sind. Schönberg mag Adorno nicht, woraus er keinen Hehl macht, auch ihn wird er im Verlauf der Kontroverse scharf angreifen.
Die Reaktion Manns ist nicht anders denn souverän zu nennen. Als Schönberg ihn um ein Exemplar des "Doktor Faustus" bittet, versieht er den Roman mit der Widmung "Dem Eigentlichen". Doch Schönberg kommt aus seinem Zornigeldasein nicht mehr heraus. Selbst die erwähnte editorische Notiz macht ihn wütend, weil er darin nur als ein deutscher Komponist und Theoretiker genannt ist und nicht als der deutsche Komponist und Theoretiker. Der Zwist kulminiert in einem Brief Schönbergs an die "Saturday Review of Literature", worin er Mann des Diebstahls von geistigem Eigentum bezichtigt.
Auch in diesem kritischen Augenblick bleibt der Beschuldigte cool. Zwar bezeichnet er Schönbergs Schreiben in seinem Tagebuch als "kläglichen Schimpfbrief", in seiner, ebenfalls in der Zeitschrift gedruckten Antwort jedoch beendet Mann im Dezember 1948 die Debatte mit staatsmännischer Attitüde: "Es ist schmerzlich anzusehen, wie ein bedeutender Mensch, in nur allzu verständlicher Überreiztheit durch ein zwischen Verherrlichung und Vernachlässigung schwebendes Dasein, sich beinahe willentlich einwühlt in Ideen des Verfolgt- und Bestohlenseins und sich in giftigem Zank verliert. Möge er sich doch über Bitterkeit und Misstrauen erheben und im sicheren Bewusstsein seiner Größe und seines Ruhmes Ruhe finden!" Ob Thomas Mann geahnt hat, wie weitsichtig gerade die letzten Worte sind, steht dahin. Fakt ist: Gut zweieinhalb Jahre nach diesem Brief, am 13. Juli 1951, stirbt Arnold Schönberg.