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Wortmeldungen-Literaturpreis: Die Verletzlichkeit des Menschen

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Von: Judith von Sternburg

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Vier der fünf Nominierten für den Wortmeldungen-Literaturpreis: Olga Martynova, Kinga Tóth, Lisa Krusche, Sasha Marianna Salzmann (v.l.). Foto: Christof Jakob
Vier der fünf Nominierten für den Wortmeldungen-Literaturpreis: Olga Martynova, Kinga Tóth, Lisa Krusche, Sasha Marianna Salzmann (v.l.). Foto: Christof Jakob © Christof Jakob

Der „Wortmeldungen“-Shortlist-Abend im Frankfurter Literaturhaus.

Der Shortlist-Abend des „Wortmeldungen Ulrike Crespo Literaturpreises für kritische Kurztexte“ ist ein Schlaraffenland. Statt Zuckerkringeln fliegen hochinteressante Texte vorüber. Man braucht bloß dazusitzen in einem der Räume des bei dieser Gelegenheit seine ganze Pracht aufklappenden Frankfurter Literaturhauses, und die Nominierten eilen durchs Haus von Lesetischchen zu Lesetischchen.

Für die vier Gesprächsduos – die fünfte, Judith Schalansky, musste kurzfristig absagen – sicher auch ein bisschen verrückt: 4x20 Minuten reden vor jeweils anderem Publikum. Für uns: vier dicke Scheiben Gespräch. Über vier sehr unterschiedliche, aber nicht zusammenhanglose Texte.

Die Frankfurterin Olga Martynova blickt in ihrem Essay „Der Krieg und die Trauer“ auf die Folgen des 5. Juli 2018 und des 24. Februar 2022 – völlig getrennte Ereignisse, verwandte Gefühle. Am 5. Juli 2018 starb ihr Mann, der Dichter Oleg Jurjew. Sie persönlich, sagte sie im Gespräch mit Christoph Schröder, lebe seitdem in einer Katastrophe. Trauer sei in dieser Hinsicht wie das Verliebtsein: „Man weiß es, wenn man in diesem Zustand ist.“ Nichts könne sie seither höher schätzen als den Wert eines Lebens, sagte Martynova. Macht der Krieg den Wert der Kunst kleiner? „Die Kunst ist nicht kleiner geworden. Das Leben ist größer geworden.“

Sasha Marianna Salzmann stellte den Essay „Der große Hunger und das lange Schweigen“ vor, der sich um das Erinnern, Vergessen, Ausblenden von Geschichte dreht. Es sei offensichtlich ein Hohn gegenüber Menschen aus Ex-Jugoslawien, vom ersten Krieg auf europäischem Boden seit 1945 zu sprechen, sagte Salzmann im Gespräch mit Shirin Sojitrawalla. Umgekehrt sei jetzt zu beobachten, wie die Ukraine ins Bewusstsein der Menschen hierzulande rücke. Einerseits die Hilfsbereitschaft, andererseits, so Salzmann: Der Versuch, eine Wohnung für eine palästinensische Familie aus der Ukraine zu finden, sei nicht lustig gewesen. Denn schon machen wir uns neue Bilder, die Ukraine als multiethnischer Staat gehöre nicht dazu. Ferner empfahl Salzmann eindringlich Oksana Sabuschkos Roman „Feldstudien über ukrainischen Sex“.

Lisa Krusche erzählt in „Fanta Finito“ von der Alkoholkrankheit ihres Vaters und den schier unüberwindbaren Schwierigkeiten, im (dafür doch zuständigen?) Gesundheitssystem Hilfe zu bekommen. Mit Anna Engel sprach sie über die folgenreiche Illusion vom gestählten, unabhängigen Körper, dabei sei Hilfsbedürftigkeit das selbstverständlichste der Welt.

Nahtlos und wie abgesprochen schloss die literarische Miniaturensammlung „Die Unsichtbaren“ von Kinga Tóth an: das Leben mit Krankheiten aller Art, das Tóth nicht als Ausnahme, sondern als Norm schildert – so stellt es sich immerhin sehr vielen Menschen dar. Im Gespräch mit Beate Tröger ergab sich auch daraus ein echter Perspektivwechsel.

Man wurde völlig verwickelt. Wichtig aber noch der Hinweis, dass der mit 35000 Euro dotierte Preis am 16. Juni in den Kammerspielen verliehen wird.

Im Radio: am 18. Februar, 18.04 Uhr, hr2-kultur, „Literaturland Hessen“. Alle Texte unter wortmeldungen.org

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