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Wladimir Korolenko – Verstümmelnde Verhältnisse

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Von: Christian Thomas

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„Der Mensch ist geschaffen für das Glück wie der Vogel für den Flug.“ Ukrainisches Dorf um 1880.
„Der Mensch ist geschaffen für das Glück wie der Vogel für den Flug.“ Ukrainisches Dorf um 1880. © Kharbine-Tapabor/Imago

Eine kleine Ukraine-Bibliothek (24): Der Erzähler Wladimir Korolenko.

Wladimir Korolenko war seiner Zeit weit voraus. Er war es als Untertan während der Zarenzeit, er war es als Schriftsteller. Das ist kein Widerspruch. Und auch wenn er kein Phantast war, so war der Gedankenflug, den er 1890 aufschrieb, wahrhaftig phantastisch. Ein Paradox?

Jedenfalls war es nicht die erste Geschichte in der Ukraine, in der es mit dem Teufel zuging, auch nicht die erste, in der ein Teufel den Himmel für seine Flugeinlagen nutzte, eindeutig fremdes Territorium – aber es war ein Ereignis, das aus gleich zwei Perspektiven erzählt wurde. Zum einen so, dass der Teufel seine Beute, einen Müller, den er in die Lüfte entführt hatte, plötzlich aus seinen Klauen ließ, so dass der Mensch „wie ein Federchen, sich von einer Seite auf die andere drehend, in die Tiefe“ fiel – was von unten gesehen war, vom Erdboden aus.

Korolenko verstand es, den erzählerischen Effekt über den stürzenden Müller noch zu steigern, denn „da weitet sich schon unten das Sumpfgelände zwischen Dort und Mühle immer breiter und breiter“ – aus der Perspektive des Stürzenden gesehen, von oben. Was für ein Coup. Und wie ging die Sache aus? „In vollem Schwung plumpst der Müller in den Morast, so dass der ganze sumpfige Boden schwankt, als ob er federe.“ Was sich womöglich ulkig liest, ist in Wahrheit ungemein raffiniert erzählt.

Er, dieser Korolenko, sei einer der „bedeutendstem Novellisten der neueren russischen Literatur“. In einem von Goldmanns Gelben Taschenbüchern wurde es so gesagt, und es entsprach vor rund sechs Jahrzehnten, vierzig Jahre nach seinem Tod 1921, den Tatsachen, auch wenn es nicht einmal die halbe Wahrheit war, wie man durch Rosa Luxemburg erfahren konnte.

Denn dieser Korolenko, 1853 geboren, war seiner Abstammung nach dreierlei, „Ukrainer, Pole und Russe zugleich“, wie die gebürtige Polin Luxemburg betonte, als sie 1918 im „Strafgefängnis“ Breslau für die vor ihr ins Deutsche gebrachten Erinnerungen Korolenkos eine enorm gebildete Einleitung verfasste, seitdem mehrfach nachgedruckt, auch in der Manesse Bibliothek, in der drei Bücher Korolenkos herauskamen: 1954 „Der Wald rauscht“, 1967 „Der Tag des Gerichts“, 1985 „Die Geschichte meines Zeitgenossen“ – wovon nur die ersten beiden Teile der vierbändigen Autobiografie ediert wurden.

Bereits das Kind, erinnerte sich Korolenko, „trieb sich herum“, ausdrücklich „in schlechter Gesellschaft“, unter alles andere als idealisierten Outsidern. Von enormer Anziehungskraft ein Schloss, heruntergekommen zu einer Ruine. Magische Attraktion für Kinder und Jugendliche, erwies sich das nicht mehr feudal bewohnte, sondern den Ärmsten der Armen überlassene Schloss als die Allegorie einer Mikro-Despotie. Drumherum eine verwahrloste Stadt. Vom Autor als Symbole der allgemein gelebten Gleichgültigkeit angelegt die verschlammten Teiche. Zu Symbolen einer gärenden Unzufriedenheit werden die Bottiche, in der die trübe Brühe, durch Angelspiele beunruhigt, Fäulnis aufsteigen lässt. Lähmend die Geistlosigkeit des Alltags, furchteinflößend das Schulwesen – Spiegel eines zynischen Rechtssystems.

Die Reihe

Eine kleine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze, ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.

Wladimir Korolenko: Der Wald rauscht und andere Erzählungen. A. d. Russ. v. Bruno Goetz. Manesse 1954. 362 S., antiquarisch rund 10 Euro.

Wladimir Korolenko: Der Tag des Gerichts und andere Erzählungen. A. d. Russ. v. Erich Müller-Kamp. Manesse 1967. 450 S., antiquarisch rund 10 Euro.

Wladimir Korolenko: Das Paradox. Erzählungen. Übersetzung und Nachwort von Erich Müller-Kamp. Goldmann 1963. 166 S., antiquarisch rund 5 Euro.

Wladimir Korolenko: Die Geschichte meines Zeitgenossen. A. d. Russ. u. mit einer Einleitung von Rosa Luxemburg. Es gibt mehrere Ausgaben, darunter März Verlag 1970 und Manesse Bibliothek 1985. 646 S., antiquarisch rund 15 Euro.

Wladimir G. Korolenko: Das Haus Nr. 13. Aufzeichnungen, Reportagen, Gerichtsprotokolle. Mehrere Übersetzer a. d. Russ. . Gustav Kiepenheuer 1985. 488 S., antiquarisch rund 10 Euro.

Zuletzt ins Regal gestellt: Artem Tschechs „Nullpunkt“, Yevgenia Belorusets’ „Glückliche Fälle“ und „Anfang des Krieges“, die Nestorchronik, die Ausgabe „Widerstand“ der Zeitschrift „Osteuropa“ und Erzählungen von Michajlo Kozjubynskyj.

Als Nr. 25 der Bibliothek werden Bücher über die deutsche Ostpolitik der vergangenen Jahre vorgestellt.

Auch wenn es selbst heute noch hier und da eisern eingeklagt wird: Die sog. Relevanz von Literatur liegt nicht in einer Rechtsprechung mit anderen Mitteln. Nur ja keine Tendenzkunst, befand ausdrücklich die Revolutionärin Luxemburg, bewunderte sie doch Korolenkos ungemeines Feingefühl (wofür sie von marxistischen Dogmatikern gemaßregelt wurde). Mit „Der blinde Musikus“ konfrontierte Korolenko hochartifizielles Virtuosentum mit dem musikalischen Reichtum der ukrainischen Volksmusik. Schon das Kleinkind Korolenko wuchs auf im Bannkreis einer poetischen Tradition, die allerdings von dermaßen grässlichen Horrorgeschichten durchsetzt war, dass es erstarrte. Das Paradox als Erfahrung von Kindesbeinen an, erlebt auch durch einen als „Phänomen“ vorgeführten Menschen, einen ohne Arme, der dem Publikum auf dem Gutshof zuruft: „Der Mensch ist geschaffen für das Glück wie der Vogel für den Flug.“

Korolenkos Haltung, abgerungen krassesten Widrigkeiten, wurde animiert durch Herzensbildung. Zehn Jahre seines Lebens verbrachte er als Verbannter, entkam Lagerhaft, Eiswüsten, Hitzehöllen, menschlichen Abgründen – dennoch kein politischer Fanatismus, kein religiöser, kein radikaler Nihilismus, vielmehr eine undogmatische Prosa, empfindlich bis zur Zartheit. Die „poetische Natur“ Korolenko als ein weiteres Paradox? Es war der unkorrumpierbare Korolenko, der 1903 den Pogrom von Kischinjow rekonstruierte und dabei nachwies, dass Plündern und Morden im Interesse der Behörden Bessarabiens geschah. Dabei verwies der Autor auf die obendrein infame Täter-Opfer-Umkehr, wodurch die Mörder ihr Morden durch die Existenz ihrer Opfer herausgefordert sahen. In einem weiteren Text wurde die zaristische Justiz einem Vorgehen aufgrund von Gerüchten überführt, nachweislich in dem niederträchtigen „Multaner“ Ritualmordprozess.

Die Heimtücke der Gerüchte, 1831 intensiv thematisiert in Nikolai Gogol Geschichte „Jahrmarkt in Sorotschinzy“, fand Korolenko 1905 am selben Ort vor. In „Die Tragödie von Sorotschinzy“ klagte er die „Vergewaltigungen“ und „Folterungen“ ganzer Dörfer durch Kosakenkommandos an, angestiftet durch staatliche Stellen.

Willkür und Missbrauch waren überhaupt Alltag, die Bräute vierzehn, um von ihren weit älteren Ehemännern „erzogen“ zu werden, auch Korolenkos Mutter vom Vater, wie dem Sohn nicht entging. Vermagdung der Mädchen, zudem die Versklavung der Mägde. In „Der Wald rauscht“ erzwingt der Gutsbesitzer von einem Untertanen die Heirat mit einer Frau, die der Herr ebenfalls nicht „schont“, sie vielmehr der „Schande“ unterwirft.

Allenthalben verstümmelnde Zwangsverhältnisse. So erzählt auch „Der Tag des Gerichts“ die angesprochene Geschichte weniger von lustigen Luftfahrten als vielmehr von Gewaltorgien während des Jom Kippur, mit Pogromen zum jüdischen Versöhnungsfest. Es war Sarkasmus, wenn Rosa Luxemburg in ihrem Text über Korolenko meinte: „Wer außer der Kriminalpolizei, den Staatsanwälten und Statistikern interessiere sich für Mordfälle? Höchstens der Detektivroman und das Kinodrama.“ Sie wollte damit sagen, dass Korolenkos Kunst, weit über ihre eigene Aufzählung hinaus, vom „schiefen Wuchs der Menschenseele unter der Einwirkung alltäglicher gesellschaftlicher Verhältnisse“ erzählte. Dass sie es so sagte, ein halbes Jahr vor ihrer Ermordung durch rechtsextreme Offiziere, macht ihre emphatische Resonanz auf Korolenko zu einem bestürzenden Dokument.

Ebenfalls nicht zu vergessen: Um die Parteinahme Korolenkos für den Bolschewismus bemühte sich Lenin. Es geschah vergeblich. Der Humanist Korolenko ließ sich durch den Gewaltpolitiker nicht korrumpieren.

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