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„Wir müssen die Welt täglich neu einrenken“

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Von: Christina Lenz

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Marodierende Jugendliche 2007 im Norden von Paris: "Unruhen in Vororten gibt es in Frankreich seit den 70er Jahren, sie flammen immer wieder zyklisch auf."
Marodierende Jugendliche 2007 im Norden von Paris: "Unruhen in Vororten gibt es in Frankreich seit den 70er Jahren, sie flammen immer wieder zyklisch auf." © REUTERS

Wie werden junge Franzosen zu Attentätern? Das fragt sich die Autorin Gila Lustiger in ihrem neuen Buch „Erschütterung“. Ein Gespräch.

Frau Lustiger, Sie haben nach den Pariser Attentaten vom 13. November so reagiert wie wahrscheinlich die meisten Menschen: Sie haben sich in die mediale Informationsflut gestürzt. Hat Ihnen das beim Verstehen und Verarbeiten der Ereignisse geholfen?
Man muss sich noch einmal klar machen, wie groß der Schock war: Da haben Menschen Sprengstoffwesten gezündet – mitten in Paris! Es war für mich und ich glaube für uns alle erst einmal notwendig, herauszubekommen, was genau geschehen war. Es gibt ja immer ganz schnell Hypothesen und Vermutungen. Und daraus entsteht die Gefahr, dass die Ereignisse instrumentalisiert werden. Dann ist es gut, wenn jemand zunächst einmal alles ganz faktisch darstellt, wie das der französische Staatsanwalt François Molins für die Attentate getan hat.

Gab es einen Zeitpunkt, an dem die puren Informationen Ihnen nicht mehr weiterhalfen?
Ich habe irgendwann entdeckt, dass sich alle Medien gegenseitig zitierten und Live-Ticker trotzdem weiter alle paar Minuten Informationen ausspuckten. Es war eine Art Hyperrealismus entstanden. Da wurde mir klar, dass ich aufhören musste, mir noch mehr Informationen zu besorgen, weil sie eigentlich verdeckten, worum es ging. Nämlich um die Frage: Welche historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen ermöglichen es, dass ein Franzose einen anderen Franzosen umbringt.

Wie haben Sie sich danach weiter mit dem Geschehen beschäftigt?
Ich fragte mich erst einmal: Was machen die Ereignisse mit uns, wie reagieren wir? François Hollande hat ja gleich am nächsten Tag den Ausnahmezustand verhängt und so eine prompte Antwort auf die Attentate gegeben – das musste er als Politiker vielleicht auch. Ich habe mir allerdings gesagt: Jetzt müssen wir uns erst einmal Zeit nehmen, um zu fragen, was uns als Zivilgesellschaft eigentlich ausmacht.

Haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
Als Antwort muss man sich nur die Opfer anschauen: Sie kamen aus 70 Kommunen Frankreichs und aus 17 Ländern. All diese Menschen saßen an einem Freitag Abend in Cafés, Restaurants, in einer Konzerthalle und einem Fußballstadion. Wir vergessen manchmal, was es bedeutet, auf diese Weise neben- und miteinander feiern zu können. In einem Immigrationsland wie Frankreich heißt das, dass man den Anderen trotz seiner Differenzen und mit seinen Differenzen akzeptiert. Es gibt heute nur wenige Zivilisationen, in denen das möglich ist.

Sie haben sich nach den Attentaten auch intensiv mit den Lebensgeschichten vieler Opfer beschäftigt. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Was mich frappiert hat, ist, dass die Täter, sobald sie sich dem Terror verschreiben, alle die gleichen Biographien haben. Es endet bei der Sprengstoffweste. Bei der Beschäftigung mit den Opfer-Biographien fand ich es hingegen sehr bewegend, dass die meisten Familienmitglieder und Freunde von deren persönlichen Vorlieben sprachen. Von ihren Wünschen, ihren Hobbys, ihren Plänen und eben nicht von Hass auf die Attentäter, Überfremdung oder Leitkultur. Das heißt, sie haben vor allem an die Individualität dieser Menschen erinnert. Und wenn Sie sich die Biographien anschauen, dann sehen Sie, dass sie sich nicht über Religion, Kultur oder Herkunft definieren ließen, sondern selbst bestimmten, wer sie waren. Eines der Opfer konnte Chopin fehlerfrei spielen, einige mochten Rum, andere Blumen. Was zählte, waren die kleinen, alltäglichen Nebensächlichkeiten, die ein Leben ausmachen.

Die Täter kamen aus derselben Gesellschaft. Wie erklären Sie sich, dass sie einen ganz anderen Weg wählten?
Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Die Täter, das sind wir, denn Franzosen haben Franzosen umgebracht. Viele von ihnen kamen aus den sozialen Brennpunkten, aber waren in diesem Land, diesem Sozialstaat aufgewachsen, hier zur Schule und in Sportvereine gegangen. Und sie unterschieden sich in dieser Hinsicht kaum von den Opfern. Auch unter ihnen gab es übrigens ganz viele Migranten. Der Unterschied zwischen den Tätern und den Opfern ist, dass die Opfer in der Zivilgesellschaft aufgegangen sind, Arbeit hatten, studiert haben und weltgewandt waren. Die Täter hingegen waren die Verlierer der Republik und haben sich auch selbst als solche betrachtet.

Sie setzen in Ihrem Buch auf der Suche nach Gründen für den Terror bei den Jugendkrawallen 2005 an. Sie beschreiben ganze Teile der französischen Banlieues-Bewohner als von der Politik allein gelassene, gesellschaftlich verwahrloste Klasse. Dafür machen Sie auch die französische Politik verantwortlich. Inwiefern?
Unruhen in Vororten gibt es in Frankreich seit den 70er Jahren, sie flammen immer wieder zyklisch auf. Wir haben also seit Generationen Jugendliche im Land, die ihren Frust über die Zustände mit Gewalt ausdrücken. Die „Politique de la Ville“, also die sogenannte integrative Stadtpolitik, mit der massenhaft Gelder in die Vororte reingesteckt wurde für Förderprogramme, Schreib- und Tanzwerkstätten und viele andere Maßnahmen, hat daran nichts geändert. Obwohl Milliarden in den Kampf gegen Armut und Ausgrenzung investiert wurden, flammen die Krawalle immer wieder auf. Die französische Politik – links und rechts – hat es bisher nicht geschafft, den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dazuzugehören.

Bei Ihrer Recherche zur Gewalt in französischen Vororten nennen Sie auch erschreckende Zahlen, die belegen, dass Gewalt gegen Juden in Frankreich in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Die für mich schockierendste Tat der letzten Jahre war der Mord an dem 23-jährigen jüdischen Handyverkäufer Ilan Halimi im Jahr 2006, der von einer Gruppe Jugendlicher aus einer französischen Vorstadt entführt wurde. Sie nannten sich die „Gang der Barbaren“ und forderten von dem Handyverkäufer 450 000 Euro Lösegeld. Die Gang-Mitglieder waren also eindeutig der Wahnvorstellung verfallen, dass alle Juden reich sind. Halimi wurde wochenlang gefoltert und ist schließlich an seinen Wunden gestorben. Damals habe ich mir sehr genau die Profile der Täter angeschaut, der Jüngste war 17 Jahre alt. Natürlich waren sie alle von radikalislamistischer Literatur aufgehetzt worden und fühlten sich gedemütigt von dem imaginären Reichtum der Juden. Da zirkulierten Wahnvorstellungen von der Macht der Juden, der Weltlobby, wie sie es in vielen Vorstädten gibt. Der Anführer Youssouf Fofana kam von der Elfenbeinküste – und als ich ihn vor Gericht erlebte, hatte ich das Gefühl, dass er die gesamte gewalttätige Geschichte seines Landes in die Vorstadt geschleppt hatte. Korruption, Despotismus, Willkür und Bürgerkrieg. Ich habe mich auch gefragt: Warum richtet er seinen Hass auf die Juden? Ich kam nur zu der Antwort, dass die Machtlosen einfach leichter zu haben sind.

2012 wurden außerdem drei Kinder und ein Lehrer an einer jüdischen Schule ermordet, im Sommer 2014 wurden zwei Synagogen mitten in Paris angegriffen. Geht der Antisemitismus in Frankreich so weit, dass sich Juden konkret bedroht fühlen?
Ich persönlich fühle mich nicht bedroht. Aber wenn Sie Jude sind, dann sind Sie auf jeden Fall potenzielles Opfer, können in Frankreich gemobbt, beschimpft, bespuckt, zusammengeschlagen werden. Wir wissen auch, dass alle jüdischen Institutionen potenziell gefährdet sind. Das ist einfach eine Realität.

Obwohl Sie für Ihr Buch viele Fakten und Zahlen recherchiert haben, spielt für Sie auch Literatur eine wichtige Rolle beim Verstehen der Ereignisse. Sie suchen bei Bloch, Kafka, Montesquieu, Voltaire, Rimbaud, Tucholsky und Hannah Arendt nach Antworten. Was kann uns Literatur in Zeiten des Terrors sagen?
Ich kann Literatur nur jedem empfehlen, der die Welt verstehen will (lacht). Als ich mich lesend mit dem Terror auseinandergesetzt habe, bin ich bei Hannah Arendt auf eine wunderbare Formulierung gestoßen. Sie schreibt 1958 in ihrem Text „Die Krise der Erziehung“: „Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab.“ Weil wir die Gesellschaft also selbst erschaffen haben, müssen wir sie auch täglich neu zum Funktionieren bringen. Einrenken nennt das Arendt. Das ist ein wunderschönes Bild: Wir müssen uns und unseren Nachfahren – den Kindern und Jugendlichen – die Werkzeuge in die Hand geben, um die Welt täglich neu einzurenken.

Interview: Christina Lenz

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