Wie werde ich Salafist?

Keine Gebrauchsanweisung, sondern einige Anmerkungen zu autobiografischen Schilderungen.
Ein Hinweis vorweg: „Allahs Narren – Wie der Islamismus die Welt erobert“, das Buch des algerischen Autors Boualem Sansal sollte jeder, der sich für den Siegeszug des Islamismus interessiert, unbedingt lesen. Sein neuester Roman, der Ende April auf Deutsch erscheinen wird, heißt „2084 – Das Ende der Welt“ und beschäftigt sich mit einer Zukunft, in der ein religiöser Totalitarismus die Macht übernommen hat. „Allahs Narren“ ist darum so gut, weil Sansal nicht nur eine Geschichte des modernen Islamismus, beginnend mit der Muslimbruderschaft in Ägypten, skizziert, sondern die Geschichte seiner eigenen Wahrnehmung dieser unbeholfenen, weitgehend ahnungslosen Fanatiker: die im von den Kolonialherren befreiten Land von den Dörfern her die Gesellschaft, die im Falle Algerien weitgehend gerade keine muslimische war, aufrollten und, obwohl sie unentwegt unterdrückt wurden, offenbar unaufhaltsam an Macht gewannen.
Der 1949 geborene Sansal, der am Gymnasium Latein und Griechisch gelernt hatte, studierte dann Ingenieurwissenschaften und Volkswirtschaftslehre, um mitzuhelfen beim Aufbau eines neuen Algerien. Das tat er auch ab 1992 im algerischen Industrieministerium. 1999 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Sansal kann uns nicht sagen, wie man Salafist wird. Er war nie einer. Aber er hat beobachtet, wie der Islamismus von immer mehr Menschen um ihn herum Besitz ergriff. Und er erzählt uns, wie teuer er bezahlt hat – dafür, dass er das so lange unterschätzte.
Dominic Musa Schmitz aus Mönchengladbach erzählt eine ganz andere, er erzählt seine Geschichte. „Ich war ein Salafist“ handelt von einem 17-Jährigen, der 2004 über einen marokkanischen Kifferfreund an den Islam und von dort an den salafistischen Prediger Sven Lau gerät, zu dessen Assistenten er wird. Schmitz ist heute 29 Jahre alt, hat sich vom Salafismus befreit, ist aber weiter Moslem. Er erzählt, wie er es wurde, wie er sich in kürzester Zeit radikalisierte und wie schwer es ihm fiel und gemacht wurde, wieder herauszukommen aus der Szene. Immerhin zeigt er: Es geht.
Wie wird man Salafist? Schmitz’ Antwort ist unbefriedigend. Er erzählt von seiner damaligen Orientierungslosigkeit, von seinem Gefühl der Wert-, der Bedeutungslosigkeit. Die „Brüder“ der Moscheegemeinde nahmen ihn auf, hörten ihm zu. Das war wohl wirklich so. Aber eine Band hätte es dann doch wohl auch getan oder eine Gang. Schmitz sieht sich als Opfer. Die salafistischen Verführer haben sich ihn herausgepickt und ihm den Kopf gewaschen, so liest sich seine Geschichte. Aber es ist doch auch die von einem, der sich einen allmächtigen Gott erträumt, an dessen Seite er jetzt und in Ewigkeit Macht haben wird.
Sie wollen die Macht
Die Jugendlichen, die sich einem alten Mann in den Weg stellen und von ihm verlangen, dass er ihnen „Respekt“ erweist, wollen nicht „Respekt“. Sie wollen Unterwerfung. Der religiöse Fanatiker – gleich welcher Konfession – fordert diese Unterwerfung im Namen seines Gottes. Der Salafist ist der Blockwart des Herrn. Dass der sich nicht zeigt, steigert die Macht des Blockwarts, statt sie zu dimmen.
Sehr eindrücklich zeigt Schmitz, wie der Islamismus ihm aus seiner Drogenabhängigkeit hilft und wie er wieder in sie zurückfällt, wenn er sich von ihm befreit. Er schildert, wie ihm immer wieder Zweifel an seiner salafistischen Weltanschauung und Praxis kommen, dass er sie irgendwann nicht mehr zurückdrängen kann. Ohne Anlass. Die Gemengelage seiner Gefühle und Argumente hat sich verschoben. Das macht Hoffnung. Auch der größte Fanatiker ist ansprechbar. Nicht jetzt und nicht sofort. Aber das, was wir ihm entgegenhalten, bleibt in ihm und wirkt weiter.
Im Buch beschreibt Schmitz, wie er einmal erklärte: „Im Islam dürfen wir nicht lügen und nicht lästern, wir müssen unsere Familie und unsere Nachbarn ehren.“ Er erhielt die Antwort: „Dazu brauche ich keine Religion. Das gehört sich einfach nicht.“ Schmitz schämte sich, dass er für das Selbstverständliche einer Höllendrohung bedurfte.
Dominic Musa Schmitz hat einen YouTube-Kanal, auf dem er von seinen Erfahrungen erzählt und geduldig Fragen beantwortet. „Warum denn denken? Es steht doch alles im Koran“, hört er von seinen Konvertitenfreunden. Heute fragt er sich: „Wie konnte ich es so viele Jahre zwischen all diesen Einfaltspinseln aushalten?“
Auch Ahmad Mansour war radikaler Islamist. Er wird 1976 in Tira, damals ein kleines Dorf in der Nähe von Tel Aviv, geboren. Ein arabischer Israeli, der aufwächst im wütenden Antisemitismus seiner Umgebung, der von seinem Gefühl der Minderwertigkeit freikommt, als der Imam ihn anspricht und ihm sagt, er könne etwas Großes aus seinem Leben machen. Mansour ist 14 Jahre alt und besucht die Koranschule. In der wird er radikalisiert und radikalisiert er sich. Mansour warnt davor, die jugendlichen Islamisten nur als Opfer zu sehen. Sie wollen einer Elite angehören. Sie wollen die Macht. Der Traum, etwas Besonderes zu sein, ist nicht zu trennen von der Vorstellung, anderen überlegen zu sein. Nicht auf Grund von Leistungen, von Wissen oder Können, sondern weil man es ist.
Mansour bettet seine Geschichte ein in die unserer Zeit. Er ist Diplompsychologe, arbeitet in Berlin für Projekte gegen Extremismus. Die islamistische Radikalisierung werde, so schreibt Mansour in seinem neuen Buch „Generation Allah“, „von Politik und Gesellschaft bagatellisiert und verdrängt. Nicht einmal die erschreckenden Medienberichte über Hunderte jugendlicher Dschihad-Touristen aus Deutschland, über verübte oder vereitelte Anschläge, tragen dazu bei, dass sich die politisch Verantwortlichen und die demokratische Mehrheit im Land realistisch und angemessen der Herausforderung stellen. Daher gedeihen diese sozialen Phänomene ungehindert weiter. Es wird ungenügend geforscht. Es fehlt eine offizielle Datenbasis. Es mangelt an politischem Willen, die Wahrheit zu sehen. Fazit: Es gibt einen blinden Fleck in der Gesellschaft“.
Der jordanische Politikwissenschaftler und Islamismusexperte Mohammad Abu Rumman lässt in seinem Band „Ich bin Salafist“ mehr als ein Dutzend radikaler Islamisten zu Worte kommen. Er weist auf etwas hin, das man in den anderen Zeugnissen übersehen konnte: auf den Bildungstrieb der Fundamentalisten. Sansal sieht sie zunächst als ungebildete Narren, Schmitz als „Einfaltspinsel“. Rumman schreibt dagegen: „Bei den Salafisten gibt es so etwas wie ‚Macht durch Wissen‘. Unter den Anhängern herrscht ein starker Wettbewerb darum, wer mehr religiöses Wissen erwirbt als der andere und dadurch aufsteigt in der Gruppe.“
Es handelt sich um ein sehr spezifisches Wissen. Es geht dabei darum, das richtige Mohammedzitat parat zu haben. Es geht gerade nicht darum, die verschiedenen Überlieferungen kritisch aufeinander zu beziehen. Das ist die Art von Wissen, wie sie jeder Zirkel kultiviert. Es geht dabei um die klare Trennung von innen und außen. Wer Ende der 60er in marxistischen Gruppen verkehrte, dessen Ansehen stieg in dem Maße, in dem er über jeweils möglichst „schlagende“ Zitate von Marx, Engels, Lukács, Korsch, Gramsci, Che Guevara, Mao Tse-tung verfügte. Die Komik, die darin lag, dass diese untereinander heillos zerstrittenen, ungläubigen Sekten einander mit Zitaten bombardierten wie Theologen es nicht besser tun konnten, amüsierte und erschreckte die damaligen Beobachter.
Nicht anders geht es uns heute, wenn wir sehen, wie die „Generation Allah“ glaubt, der Wirklichkeit mit ein paar Zitaten aus Koran und Hadithen zu Leibe rücken zu können. Wie damals gehören auch heute zu den Zitaten die Waffen. Immer wieder wird die Waffe der Kritik schnell ersetzt durch die Kritik der Waffen. Es dauert dann nicht nur sehr lange, bis man wieder bei der Waffe der Kritik ankommt. Meist sind auch Hunderte, Tausende oder mehr Menschen unterwegs auf der Strecke geblieben.