Wenn die Welt die Form verliert

Jürgen Seidels und Mats Wahls sehr unterschiedliche Zeitdiagnosen verweigern sich platten Zuschreibungen
Von FRITZ WOLF
Es ist kalt in Schweden. Ständig fällt Schnee in dieser mittelschwedischen Provinzstadt, in der Kriminalkommissar Harald Fors ermittelt. Und die Kälte ist nicht nur äußerlich. Sie regiert auch zwischen den Menschen. Ahmed Sirr, ein 17-jähriger Ausländer, ist erschossen aufgefunden worden. Haben Rechtsradikale die Hände im Spiel? Ist der Junge Drogendealern in die Quere gekommen? Die Ermittlungen beißen sich fest. Die Menschen hier sind nicht sonderlich redselig: Kaltes Schweigen eben.
Mats Wahls Thriller Kaltes Schweigen ist eigentlich kein Jugendroman, sondern ein Krimi, in dem Jugendliche eine herausgehobene Rolle spielen. Er ist auch eigentlich kein Krimi, sondern ein Gesellschaftsroman, in dem kriminelle Ausländer und rechtsradikale Jugendliche eine Rolle spielen, in der verfehlte Polizei- und Jugendpolitik zur Sprache kommt und in der eine Polizeitruppe ermittelt, in der es um Moral und Berufsethik auch nicht zum Besten steht.
Vor allem aber hat Mats Wahl einen Roman geschrieben, der viele Fragen stellt und am Ende vieles offen lässt. Er offeriert keine einfachen Rechnungen, vermeidet jeden Schematismus und tröstet niemanden mit der simplen Gleichung von Gut und Böse. Der ermordete Junge ist ein unsympathisches Opfer, ein kleiner Krimineller, der an der Schule gedealt und geklaut hat. Die junge Rechtsradikale wirkt sympathisch, obwohl sie doch ein Jahr zuvor mit Freunden zusammen einen jungen Ausländer zu Tode getreten hat und jetzt politischen Anschluss bei den schwedischen Neonazis sucht.
Wir treffen auf eine junge Polizeibeamtin, die nichts über Hitler und die Konzentrationslager weiß. Wir lernen einen Kommissar kennen, dessen Grundsatz, man müsse über alles reden können, einer schweren Belastungsprobe unterliegt. Dieser nachdenkliche Harald Fors ist eine weitere ausgesprochen gelungene Figur in der langen Tradition von Kurt Beck bis Kurt Wallander, wie sie seit den sozialkritischen Krimis von Sjöwall / Wahlöö in der schwedischen Literatur entwickelt worden sind.
Schwerer Stoff also, und doch kein themenlastiges Buch. Im Gegenteil. Mats Wahl erzählt meist über Dialoge und treibt die Handlung über pointiert gesetzte Szenen voran. Er folgt einer Dramaturgie wie im Spielfilm. Manche Szenen sind leider flach und unaufmerksam übersetzt. Wahl spinnt seine Geschichten so spannend und voller überraschender Wendungen aus, dass man das Buch wirklich erst am Ende aus der Hand legt. Der Mord wird aufgeklärt, aber die Tröstungen eines Happy End versagt der Autor den Lesern. Es bleibt kalt in Schweden.
Eine von Wahls Nebenfiguren ist Ellen, die junge Frau, deren Freund vor einem Jahr totgetreten worden war. Sie kommt aus einer Pastorenfamilie, verliert den Glauben und legt Brand in einer alten Holzkirche. Sie könnte mit ihrem Gewissenskonflikt auch in Jürgen Seidels Thriller Seelenpest vorkommen. Hier geht es, zu ganz anderer Zeit und an ganz anderem Ort, um eine Gruppe von Jungen, die auf mysteriöse Weise ums Leben kommen - ihren Abschiedsbriefen zufolge haben sie den Glauben an Gott und damit den Sinn des Lebens verloren.
Die Seelenpest spielt im London zur Zeit Heinrichs VIII, Anfang des 16. Jahrhunderts. Andrew Whisper ist einer der begabten, aber armen Schüler im Konvikt, wo die rätselhaften Selbstmorde, auch "Seelenpest" genannt, um sich greifen. Der Junge hat sich verliebt in Margret, die Tochter des Unterschatzkanzlers, und sie in ihn - eine unmögliche Liebe. Jedenfalls in dem starren System von Klassen und Konventionen, das diese mittelalterliche Gesellschaft prägt und in der gerade erst der Vorschein der Aufklärung sichtbar wird. Hier führen die Anhänger einer starren Religion einen erbitterten Kampf gegen den Zweifel, der auch ihre Herrschaft bedroht. Der Zweifel als Antipode des unbedingten Gehorsams. "Was ist", hämmert der seltsame Lehrer Clifford den Schülern immer wieder ein, "wenn die Welt ihre Form verliert?"
Jürgen Seidel hat ein vielschichtiges Buch geschrieben, das in einer schönen Dialektik Geschichte und Gegenwart verknüpft. Vielleicht ist ihm die Liebes- und Emanzipationsgeschichte von Andrew und Margret eine Spur zu modern geraten. Zugleich hält er aber die erzählte Zeit, also das mittelalterliche London, in einer glaubwürdigen Distanz, lässt ihr die Fremdheit und sucht nicht, wie aus dem Fernsehen gewohnt, die unmittelbare Übersetzung in die Gegenwart. Seine Schilderungen des mittelalterlichen London sind anschaulich, lebendig, voller interessanter Details, Keine schöne Welt. Sondern eine rohe, gefährliche, brutale Welt. Schon das erste Kapitel überschreibt Seidel als eins "in welchem Tod und Leben billig sind". Und ein gutes Ende kommt grade noch zu Stande. Und wie bei Mats Wahl bleibt am Ende einiges offen. Auch Die Seelenpest ist ein Buch, das nach der Lektüre im Kopf weiterarbeitet.