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Wenn man stillhielt und nicht viel brauchte

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Als Bild für das Prekäre dient die Sprengung des Frankfurter Uni-Turms (2014).
Als Bild für das Prekäre dient die Sprengung des Frankfurter Uni-Turms (2014). © peter-juelich.com

Nina Bußmann befasst sich in ihrem zweiten Roman virtuos mit großen und kleinen tektonischen Verschiebungen.

Erst wirkt alles griffig. Das kleine Flugzeug, in dem eine Wissenschaftlerin unterwegs war, hat das Ziel nicht erreicht. „In der Karibik verschwindet es sich leicht“, heißt es lapidar im ersten Satz. Von Deutschland aus ist eine Freundin der Wissenschaftlerin in den kleinen Ort, das Kaff in Nicaragua gereist, an dem diese einige Zeit gewohnt hat, bevor sie auf die Tour ging, von der sie nicht zurückkehrte. „Wer verschwindet, will gesucht werden. Das war das Erste, was mir in den Sinn kam, als Jakob mich aus Managua anrief und sagte, seit Tagen werde Nelly nun vermisst.“ 

Jakob ist Nellys Freund, es wirkt wirklich griffig. Die Zurückgebliebenen wollen wissen, was passiert ist, die schreckliche, aber auch normale Verzweiflung angesichts eines nicht nachzuweisenden und erst recht nicht zu erklärenden Unglücks. Das Wetter war doch gut. Die Zurückgebliebenen gehen offenbar davon aus, dass sich schon etwas ergeben wird, vor Ort, ein Hinweis, ein Zeichen, ein Ereignis. So ist das in solchen Situationen.

Nina Bußmann hat aber anderes mit ihren Figuren und ihren Lesern vor. „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“, nach „Große Ferien“ (2012) der zweite Roman der 1980 in Frankfurt geborenen, heute in Berlin lebenden Autorin, ist die Geschichte eines fortschreitenden, aber ziellosen Abhebens. Wobei der Begriff „fortschreitend“ nicht ganz richtig ist, weil der Roman den chronologischen Ablauf verweigert, so dass Leerstellen bleiben, Dinge hinzugereimt werden müssen, Fragmentiertes bloß angeboten wird, wie die Freundin der Verschwundenen es sammelt, aber nicht zusammensetzen kann. Auch der Begriff „Abheben“ ist nicht ganz richtig.

Der Schwebezustand, auf den es allerdings hinausläuft, ist ein Boden-unter-den-Füßen-Verlieren, das keinen Überblick verschafft, im Gegenteil. „Ich hatte gehofft, mir einen Reim zu machen auf das Leben, das Nelly geführt hatte, die Person, die sie gewesen war. Alles, was ich tat, war, Stückelchen zusammenzutragen, Landschaften zu betrachten und eine Stadtarchitektur, die diese Unfähigkeit widerspiegelte, die Übersicht zu behalten, größere Zusammenhänge zu planen.“

Ein seltsames Buch also, ein Fall von Desintegration des Ablaufs und auch der Sprache, die bei immenser Präzision immer mehr bloß dazu dient, dem Unpräzisen, dem Abdriften und der Irritation Ausdruck zu geben. Und sich gegen das Vage zu stemmen, was buchstäblich unmöglich ist. Lektürefrüchte werden dafür zusammengeklaubt: Geschichten von verschollenen Flugreisenden, inklusive der berühmten Amelia Earhart und inklusive des Gesetzes, das „den Begriff der Verschollenheit“ überhaupt bestimmt. 

Denn alles ist an sich recht gut organisiert in der Welt, aus der Nelly und ihre Freundin kommen, anders als in der ländlichen Gegend Nicaraguas, in der sie landen, erst die eine, nun die andere. Nelly „musste angefangen haben, sich an das Stocken der Abläufe zu gewöhnen. Selbst sie musste nachgelassen haben in der Ungeduld, mit der sie die Dinge voranzutreiben versuchte, nachgelassen an Spannkraft, nach einer Weile aufgehört haben, die Tage mit Dauerläufen zu beginnen oder leise fluchend vor dem Notebook, wartend, dass es eine Verbindung aufbaute“.

Bald entsteht jedoch der Eindruck, sowohl Nellys Leben als auch das von Nellys Freundin hätten schon vorher nur darauf gewartet, ernstlich auseinanderzufallen. Nellys Freundin, die keinen Namen bekommt, aus deren Perspektive Bußmann aber weitgehend erzählt, ist auch gar nicht Nellys Freundin, wie sich zeigt. Die beiden kennen sich von früher, haben sich dann aus den Augen verloren. Beide sind junge, aber nicht mehr sehr junge Wissenschaftlerinnen im Umfeld der Frankfurter Universität. Sie forschen im Großen und im Kleinen an den Wurzeln von Unglück durch Instabilität.

Geologin Nelly ist auf „Plattenbewegungen an Konvergenzrändern und die Umwandlungen von Gesteinen der Erdkruste“ spezialisiert, ihr geht (ging?) es um den quasi ausgeprägtesten Versuch, menschliches Unglück zu erden. „In der Natur gibt es keine Katastrophen, nur Phänomene und Prozesse von unterschiedlicher Dauer, Ausdehnung und Intensität. Sie können den Menschen schaden, sie können sie vernichten, wenn sie ihre Städte in den falschen Gegenden bauen: in tief gelegenen Küstenarealen, an aktiven Kontinenträndern, Transformstörungen, auf instabilem Grund.“ 

Nellys Freundin hingegen, an deren Institut es um „soziale Ungleichheit“ geht, forscht „zur Einnahme leistungssteigernder Medikamente, Ritalin, Provinzial, Appetitzügler und Amphetamine. Die Mehrheit der Interviewten hatte nichts davon je probiert, war aber überzeugt von der unaufhaltsamen Verbreitung des Dopings. Eine Welt, in der sich aufputschen muss, wer mithalten will.“ Das klingt so larifari, wie Nellys Freundin es behandelt. Letztlich geht sie offenbar schon länger nicht sehr zielorientiert vor. „Ich lasse mich zu leicht ablenken, das ist auch bei den Interviews für meine Arbeit immer ein Problem gewesen, ich verwandte zu viel Aufmerksamkeit auf Oberflächen, Gesten, Accessoires und vergaß darüber, zielführende Fragen zu stellen.“ Dass sie dazu auch klinische Probleme hat, bleibt im Ungefähren.

Durchsetzt von Rückblenden und Perspektivwechseln, von Überblendungen, die vom Dialog in den Monolog wechseln oder den Ozean und die Zeiten per Halbsatz überwinden, entwirft Bußmann ein durchdachtes, lässiges und durchlässiges Geflecht der Haltlosigkeiten. Die jungen Menschen, die Nellys Freundin in Nicaragua trifft, laborieren unter anderen Vorzeichen ebenso an ihrer Suche nach einem Plan, wie sie es aus dem Frankfurter Studentenmilieu kennt – das sich durch befristete wissenschaftliche Jobs ins Erwachsenenalter verlängert.

Bußmann theoretisiert nicht

Bußmann konstruiert und theoretisiert nicht (das kann sie getrost Nellys Freundin überlassen), sondern erzählt Geschichten von Menschen, detail- und anekdotenreich und bei kühler Ökonomie der Sprache inhaltlich arabesk („viel Aufmerksamkeit auf Oberflächen, Gesten, Accessoires“). Sie hat ein feines Gespür für die Verschiebungen, die zwischen 24 und 34 stattfinden mögen. Sie erkennt, dass das neben der wirtschaftlichen auch eine heiklere, psychologische Seite hat. „Immer war sie“, heißt es über Nelly, „wenn sie über sich und ihre Arbeit sprach, um einen möglichst wurstigen Ton bemüht. Als wäre Ehrgeiz eine zu kaschierende Problemzone ... .“ 

Als Bild für das Prekäre dient die Sprengung des Frankfurter Uni-Turms (2014). Er wird – bereits geräumt – zum Refugium für dazwischenhängende Existenzen, für die der schicke Campus Westend keinen Platz mehr hat. „Einzelnen gelang es, sich einzurichten in ehemaligen Professorenbüros, warum eigentlich nicht?, dachte ich damals, es kam mir nicht absurd vor, dort überwintern zu wollen, noch während die Untergeschosse bereits entkernt wurden, wenn man stillhielt und nicht viel brauchte, wäre es möglich, dort eine ganze Weile zu überleben.“ 

In dieser Hinsicht kann man – mittendrin – noch gar nicht überschauen, wie sehr Nina Bußmann auch einen Roman ihrer Generation geschrieben hat. Vorerst liegt ein unverspielter, beunruhigender, auch sehr beharrlicher und herausfordernder Fall von Virtuosentum vor. Das Herausfordernde liegt vor allem in der Wahl der Erzählerin. Sie sei unfähig, sagt sie, „selbst den einfachsten Krimihandlungen zu folgen, viel zu leicht verlor ich mich in nebensächlichen Details, ich interessierte mich für dunkle Taten, aber nicht für die Aufklärung ihrer Motive, ich glaubte nicht einmal an Motive, die zwingend und eindeutig zu einer ganz bestimmten Handlung führten.“ Ihrerseits probiert sie schließlich eine andere Möglichkeit von Verschwinden aus, vorerst vergeblich. 

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