Wenn der Klügere nachgibt
Jeder geht mit der existenziellen Plage der Langeweile anders um: Wie, das zeigt John von Düffels Familienroman "Houwelandt"
Von ROMAN LUCKSCHEITER
Der angebliche Generationenkonflikt, von Demographen heraufbeschworen, findet seit Jahrzehnten schon nicht mehr statt - viel zu ähnlich sind sich Alt und Jung in ihren Lebensstilen geworden, viel zu selten begegnen sie sich im interessierten Wertestreit. Während sich die Geisteswissenschaften derzeit noch kompensatorisch am Erinnerungsdiskurs abarbeiten, hat sich im Alltag längst die Macht der Gegenwart über biographische Unterschiede gelegt. Sobald der Wissensvorsprung der früh Geborenen auf der einen Seite oder die produktive Naivität der Greenhorns auf der anderen als argumentative Autorität in Anschlag gebracht werden, geht man sich lieber aus dem Weg. Familienfeste gehören da zu den wenigen Gelegenheiten, wo derlei pragmatische Fluchten erheblich erschwert werden.
Dass eine solche Feier allein schon durch ihre bloße Ankündigung ganz wesentliche Impulse für die Selbstreflexion der genetisch oder emotional miteinander verbandelten Generationen und ihre gegenseitige Wahrnehmung spenden kann, führt jetzt auf unterhaltsame Weise John von Düffels Familienroman Houwelandt vor. Von Düffel, der sich seit einigen Jahren mit Prosa und Dramatik einen Namen macht, beschreibt darin - wie bereits in seinem Roman Vom Wasser - die komplexe Konstitution von Verwandtschaft.
Die Lethargie des Hausmanns
Zum 80. Geburtstag ihres Mannes Jorge plant Esther einen großen Festakt, bei dem sie die schwierige Aufgabe zu lösen hat, die latente Kommunikationslosigkeit aufzuheben, die zwischen Jorge und seinem Erstgeborenen Thomas, aber auch zwischen Thomas und dessen Erstgeborenem Christian herrscht. Hilfe erhält sie dabei ausgerechnet von ihrer Schwiegertochter Beate, einer erfolgreich der Verbeamtung entgegenstrebenden Lehrerin, die sich längst von Thomas getrennt hat, weil der zum Inbegriff von Lethargie geworden war, seit er sich für die Rolle des Hausmanns von jeglichen Ambitionen als Historiker losgesagt hatte. Sein Sohn Christian ist seither skeptisch, ob die Tugend des klugen Nachgebens tatsächlich als Königsweg zu gelten habe.
Nachgeben bis zur Selbstauflösung: Bei den Großel-tern ist es die Frau, die ihr Leben in den Schatten des Haustyrannen gestellt hat. Fasziniert von der autarken Autorität ihres Mannes, hat Esther es in Kauf genommen, sich über ein halbes Jahrhundert hinweg in einem Zustand routinierter Kommunikationslosigkeit einzurichten. Zusammen sind sie nach Spanien aufs Altenteil gezogen und damit in eine verstärkte Isolation, aus der Esther erst durch ihre Reise nach Deutschland zwecks Vorbereitung des Geburtstags herausfindet.
John von Düffel interessiert sich für generationen- und geschlechtsspezifische Verhaltensmuster und hat einen guten Blick für Spiegelungen und Kontinuitäten: So ist Thomas zwar im Gegensatz zu seinem Vater der Anti-Held, aber in seiner Verweigerungshaltung mindestens genauso stur wie Jorge in seiner eisernen Hartnäckigkeit, den eigenen Lebensrhythmus und insbesondere das tägliche Schwimmen im Meer gegen die einsetzenden körperlichen Schmerzen durchzusetzen.
Fatales Kontinuum
Als fatales Kontinuum erweist sich auch der Mangel an Austausch: In der jüngsten Generation - repräsentiert durch Christian, einem Radiomoderator im Frühdienst, und seine Freundin Ricarda, einer Juristin im absorbierenden Rund-um-die-Uhr-Job - finden Absprachen nur in den Grauzonen der Aufmerksamkeit zwischen Berufserfüllung und Erholungsbedürfnis statt: auf dem Weg ins Bett oder beim notdürftigen Mahl in der Küche. Entscheiden muss ein Houwelandt allein, selbst wenn er wie Christian plötzlich geradezu besessen ist von der Idee, ein Kind haben zu wollen.
Vaterschaft als Sinnfindung lautet das Programm, mit dem er seine Liebe zu Ricarda auf die Probe stellt. Die organisatorischen Begegnungen, die das angekündigte Familienfest mit sich bringt, dienen ihm dann als Hilfestellung wider Willen, weil er unter dem Eindruck der allmählich ans Licht kommenden Lebenslügen seiner Vorfahren daran zu zweifeln beginnt, ob es überhaupt richtig wäre, die "Kette der Defekte" fortzusetzen - insgeheim hat von Düffel einen Roman zur genetischen Pränataldiagnostik geschrieben.
Der 80. Geburtstag seines Großvaters wird nicht nur für Christian zum Katalysator der Selbstbewusstwerdung. Auch Jorge selbst, der allein in Spanien zurückbleibt und nie den Anschein machte, auf Mitmenschen angewiesen zu sein, entwickelt noch einmal ganz neue Energien, gesteht sich Sentimentalitäten ein und widmet sich der Aufgabe, einem Zigeunerjungen das Schwimmen beizubringen. Dass seine harte Schale schließlich auch noch aus erinnerten Kindheitserlebnissen hergeleitet wird, mag dem einen oder anderen Leser als Griff in die Kitschkiste erscheinen. Vom Konzept des Romans her gedacht, ist es zugleich Abrundung und historische Öffnung eines Psychogramms, das nicht nur das Schicksal der Abstammung reflektiert, sondern auch die zeitbedingten Faktoren ihrer individuellen Ausprägung und die Last der jeweils daraus resultierenden Sehnsüchte.
Die Materialbasis dieses Unterfangens ist bei einem Umfang von rund 300 Seiten für drei Generationen etwas schmal, und man ist versucht, in Anbetracht der eng umrissenen Kernhandlung von einer großen Novelle zu sprechen. Wenn der Text gleichwohl eine epische Breite ausstrahlt, dann liegt das vor allem an der stilistischen Entscheidung des Autors. Die einzelnen Kapitel sind jeweils in der erlebten Rede einer Figur verfasst und führen mal simultan, mal chronologisch ihren subjektiven Umgang mit der familiären Herausforderung in den Etappen der gegenseitigen Annäherung vor.
Nicht in jeden Figurenton scheint sich von Düffel so richtig hineingefunden haben; die Christian-Perspektive beherrscht der 38-jährige Autor jedenfalls deutlich besser als diejenige Jorges, die ihm unglücklicherweise auch einen gründlich missratenen ersten Satz beschert hat: "Die Insel vor ihm hatte die Farbe des Sandsteins, den man hier brach." Überhaupt vermisst man bisweilen die volle Präsenz seines literarischen Talents, was wiederum auf das gewählte personale Erzählverhalten zurückzuführen sein dürfte, das so wunderbare Von-Düffel-Wortschöpfungen wie "sich wachärgern" oder "syltförmiger Fleck" nicht oft genug zum Zuge kommen lässt.
Die Wahl der erlebten Rede hat freilich ihren guten Grund: Nur mit ihr wird das monologische Nebeneinander der desinteressierten Generationenglieder so beklemmend deutlich und nur über sie hat der Leser gleichzeitig den Eindruck, dem jeweiligen Lebensentwurf sei darstellerische Gerechtigkeit widerfahren.
Als Roman des Nebeneinander (wie Gutzkow einst seine Ritter vom Geist genannt hat) vermeidet Houwelandt zudem die Gefahr, als Replik der Buddenbrooks, der im Nacheinander des Niedergangs gehaltenen Familiensaga Thomas Manns, wahrgenommen zu werden. Das Generationenporträt ist vom ethischen Standpunkt aus gesehen egalitär. Jeder, so könnte das durchaus zeitkritische Motto lauten, hat das Recht auf einen eigenen Umgang mit der existenziellen Plage der Langeweile. In von Düffels letztem Roman Ego wurde die mentale Apathie durch manischen Fitness-Hedonismus kompensiert. Diesmal geht es eher um emotionalen Muskelaufbau.
P.S.: Für Buchhändler hält die Geschichte mit ihrem pädagogischen Knobelpotential in Sachen Vererbungslehre übrigens auch einen materiellen Gewinn bereit: Sie dürfen nämlich an einem Preisausschreiben teilnehmen, bei dem die kryptische Frage beantwortet werden muss, welches Mitglied der Familie "am wenigsten glaubt, mit Patriarch Jorge verbunden" zu sein und "doch vor der größten Herausforderung seines Lebens steht." Der Hauptgewinn ist ein "VIP-Abend" mit dem Autor im Hamburger Thalia Theater. Das ganze Lesen ist ein Quiz, und wir sind nur die Kandidaten - eine einschüchternde Perspektive auf künftige Strategien der Literaturvermittlung.