1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Wenn die Erde bebt

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Christian Bos

Kommentare

Der Schriftsteller und Bürgerrechtsaktivist James Baldwin 1979 in seinem Haus in Südfrankreich.
Der Schriftsteller und Bürgerrechtsaktivist James Baldwin 1979 in seinem Haus in Südfrankreich. © afp

James Baldwins Debütroman "Von dieser Welt", mit dem er sich von den Geistern der Vergangenheit löste, in einer Neuübersetzung.

Als James Baldwin 14 Jahre alt war, fand er sich auf dem Boden einer Ladenkirche in Harlem wieder. Die Füße der ekstatischen Gläubigen brachten den Boden vor dem Altar zum Beben, „wirbelten kleine Staubwolken auf, die ihm die Zunge belegten“. So beschreibt es Baldwin im finalen Kapitel seines autobiografischen Debütromans „Go Tell It on the Mountain“, benannt nach dem bekannten schwarzen Spiritual. Das Buch ist jetzt bei dtv unter dem profaneren Titel „Von dieser Welt“ erschienen, in neuer deutscher Übersetzung von Miriam Mandelkow.

Der junge Mann musste husten und würgen vom Staub, er wollte aufstehen, aber er konnte es nicht, „während er sich wälzte, geriet die Erde ins Wanken, wurde aus dem All das schiere Nichts, wurden Ordnung, Gleichgewicht und Zeit zum Hohn“.

In seinem berühmten Essay „The Fire Next Time“ schildert Baldwin den Fall vorm Altar noch einmal, ohne den Schutz der Fiktion, und vergleicht dort den Schmerz, der ihn damals zu Boden warf, mit „einer dieser Fluten, die ein ganzes Land verwüsten und alles mit sich reißen“. Ein Erweckungserlebnis, das den jungen Afroamerikaner zunächst selbst in einen frühreifen Erweckungsprediger verwandelt, bis er begreift, dass er nicht etwa Gott gefunden hat, sondern eine subtile Möglichkeit, sich an seinem prügelnden Prediger-Stiefvater zu rächen.

Später wird er schreiben, dass „all unsere Probleme daher rühren, dass wir die Schönheit unseres Lebens opfern, um uns mit Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einzukerkern, um die Tatsache des Todes zu verleugnen, die einzige Tatsache, derer wir uns sicher sein können“.

In den USA erlebt der 1987 gestorbene Autor seit einigen Jahren eine beispiellose Renaissance. Ta-Nehisi Coates, der derzeit wichtigste Denker des schwarzen Amerikas, begreift seine Essays als eine Fortführung des Baldwin’schen Werkes. „I Am Not Your Negro“, die Baldwin-Dokumentation des haitianischen Regisseurs Raoul Peck, war im vergangenen Jahr für den Oscar nominiert. Peck beleuchtet darin mit Hilfe eines zuvor unveröffentlichten Manuskripts des Schriftstellers die Geschichte des Rassismus in Amerika.

In den 50er und 60er Jahren galt Baldwin als eine der wichtigsten Stimmen der Bürgerrechtsbewegung – auch wenn Martin Luther King dem bisexuellen Autor heimlich mit Misstrauen begegnete (und dessen bestenfalls ambivalente Einstellung zur Religion wird auch nicht geholfen haben). „Time Magazine“ hob ihn 1963 aufs Titelblatt, das FBI sammelte, wie später bekannt wurde, fast 2000 Aktenseiten über den unerschrockensten und brillantesten Kritiker seines Landes.

Mehr als 50 Jahre später spricht der bekennende Bohemien, der einen Großteil seines Lebens in Paris und an der Côte d’Azur verbrachte, stärker und klarer zur „Black Lives Matter“-Generation als die sakrosankten Anführer von damals. Doch hätte es weder den Schriftsteller noch den öffentlichen Intellektuellen Baldwin ohne „Von dieser Welt“ gegeben. Es war der Roman, den er schreiben musste, um sich von den Geistern seiner Vergangenheit loszusagen – und den er erst in einem Dorf in den Schweizer Alpen vollenden konnte, nachdem er die USA, das Land, in dem er als schwarzer schwuler Mann nicht erwünscht war, so weit als möglich hinter sich gelassen hatte.

Der größte Teil der Handlung findet in eben jenem Moment des Zusammenbruchs in der Kirche statt, erzählt in Rückblicken vom Leben der Eltern und der Tante des jungen Protagonisten, erzählt in biblisch-wuchtigen Sätzen von Gottesfurcht und Aufbegehren der Schwarzen, von der Todesgefahr, in der sie von Geburt an schweben. Erzählt vom Hass auf die Weißen, die ihre ehemaligen Sklaven am liebsten tot sähen, weil sie fürchten, dass sie eines Tages zahlen müssen für das Unrecht, das sie ihnen angetan haben.

Entweder die westliche Zivilisation werde sich für alle öffnen, hat Baldwin Mitte der 60er Jahre vor Studenten in Cambridge vorausgesagt, oder sie wird von denen, die sie ausgeschlossen hat, zerstört werden. In den nächsten Jahren will dtv noch weitere hierzulande vergriffene Werke von Baldwin in Neuübersetzungen herausbringen. Im Herbst erscheint zunächst „If Beale Street Could Talk“; der Roman wird gerade von Oscar-Gewinner Barry Jenkins („Moonlight“) verfilmt.

Auch interessant

Kommentare