Weiblich, städtisch
Die Erstarrung der mittleren Jahre: Iris Hanikas kleine Literatur des wachen Intellekts
Von Jörg Plath
Was immer von Iris Hanika im leider verblichenen Alltag, in den ebenso dahingegangenen "Berliner Seiten" der FAZ oder im quicklebendigen Merkur zu lesen war, machte Appetit auf mehr. Stets nahm für diese Autorin ihr genauer Blick auf die Umgebung ein, ihre verhaltene, uneitle Subjektivität, die stilistische Präzision ohne Schaumschlägerei und die Fähigkeit, Personen in essayistischen Texten vielsagend sprechen zu lassen. Nun liegt mit Das Loch im Brot das erste Buch der 1962 geborenen Berliner Schriftstellerin vor.
"Chronik" nennt sich das Werk im Untertitel, so wie Hanikas Kolumne im Merkur, aus der etwa zwei Drittel der Texte stammen. Doch die meist wenige Zeilen, höchstens anderthalb Seiten langen Texte mit Daten aus den Jahren 1995 bis 2002 sind nicht chronologisch arrangiert. Die Schnappschüsse des Alltags im heimischen Berliner Biotop, aber auch in Paris, Wien und New York folgen einer anderen Ordnung. Deren Umrisse lassen die Überschriften der sechs längeren Texte erahnen, die die datierten Eintragungen in Blöcke gliedern: "Normal sein", "Vom gesunden Leben", "Aldi", "Über Sex", "Wir einsamen Frauen" und "Gespräche während des Verliebtseins".
Iris Hanika schreibt über geschlechtsreife, etwa vierzigjährige Großstädter, denen das Leben plötzlich in aller Alltäglichkeit auf den Leib gerückt ist.
Das erste Feuilleton "Normal sein" plaudert über das unvermutete Ende des grundsätzlichen Schwimmens gegen den Strom und der wie selbstverständlich verlängerten Adoleszenz, über die "Erstarrung der mittleren Jahre" und die zunehmende Selbstbezüglichkeit: "Wo wir früher mit Inbrunst die Faschisten hassten, hassen wir heute die Leute, die ihre Hunde ihr Geschäft auf dem Gehsteig machen lassen und den Haufen dann nicht wegräumen, und die, die nachts ohne Licht Fahrrad fahren, weil sie uns dabei so erschrecken, wenn wir sie mit unserem funktionierenden Mittelklassewagen wieder einmal fast überfahren hätten." Nicht die Geburt eines Kindes, auch kein Erkenntnisprozess besorgt diesen unaufhaltsamen Wechsel vom Rand in die Mitte der Gesellschaft und des Lebens - sondern allein die Zeit. Loch im Brot hält ein Lebensgefühl des Ausgesetztseins und des Übergangs fest.
Die Zeit ist eine Rutschbahn, auf der theoretische Gebäude und groß angelegte Synthesen keinen Halt finden. Iris Hanika beschränkt sich daher auf den Augenblick wie auf das Detail. Sie staunt über die Länge des Lebens und jedes einzelnen Tages, sie nennt einen Menschen aufgeschwemmt von guten Vorsätzen, sinniert über den Zusammenhang von Friseurgesprächen und Frisurergebnis, lobt den Sommer für seine zweite Haut aus Hitze und klagt mit Hilfe des arglosen Buchtitels Die Stute Deflorata von 1948 über die allgegenwärtige Sexualisierung. Immer wieder kommt Hanika auf die Einsamkeit der Frauen und die Mühen der Annäherung an das andere Geschlecht zurück.
Diese kleine Literatur eines wachen Intellekts findet nichts zu klein und unwürdig. Sie sucht ihren eigenen Weg zwischen Feuilleton, Aphorismus, physiognomischer Betrachtung und Gelegenheitsprosa. Allerdings sind manche Beobachtungen, besonders jene im Ausland, nicht allzu originell. Andere fallen etwas altklug aus ("Tod ist die Abwesenheit von Mangel") oder bemühen einen Expressionismus des Poesiealbums (die Mondsichel "mäht die Köpfe weg"). Trotzdem liest man das Büchlein gern. Nur wünscht man sich noch auf der letzten Seite, von Iris Hanika endlich einmal mehr lesen zu dürfen. Das Loch im Brot, wen wundert's stillt den Hunger noch nicht.