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Am Wahrnehmungsrand

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Politisch Traumatisierte des SED-Regimes - ein Erfahrungsbericht

Von UDO SCHEER

"Uns wirst du niemals los! - Diese Prophezeiung brennt sich ins Gedächtnis ein. Sie ist Synonym für Angst und Bedrohung. Schon beim Lesen wirkt der Satz beklemmend. Wie muss es gewesen sein, ihn aus dem Munde eines Stasi-Vernehmers zu hören?" Diese Sätze widmet Marianne Birthler, DDR-Bürgerrechtlerin und Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, dem Buch Das späte Gift über eines der abgründigsten Kapitel der DDR-Diktatur. Der Sozialpsychologe Stefan Trobisch-Lütge dokumentiert darin nicht nur die seelische Schädigung und die nachwirkende Traumatisierung von Opfern des SED-Repressionsapparates, sondern auch die jede Therapie erschwerende Isolation vieler Betroffener in der Gegenwart.

Der Autor berichtet, was Menschen, die Bespitzelung, Verfolgung, Haft und Psychoterror durchlebt haben, heute empfinden: "Fast alle Betroffenen, mit denen wir sprachen, haben die Wiedervereinigung vor allem auch als Vereinigung mit den Tätern erlebt." Die paralysierende Drohung ihrer einstigen Vernehmer: "Uns wirst Du niemals los" finden sie bestätigt in der von ihnen sehr sensibel registrierten Täterfaszination der Gesellschaft, in Täter-Memoiren auf Bestsellerlisten, goutierten Medienauftritten, Rentenerhöhung für ehemalige Stasi-Mitarbeiter... Das Buch zeigt, wie seelische Verletzungen neu aufbrechen, besonders wenn die erhoffte Anerkennung des eigenen Leides durch die Öffentlichkeit und im persönlichem Umfeld ausbleiben. Wenn dazu die behördliche Bewilligung einer Frührente bedingt: Ich darf nicht gesund werden, um meinen Versorgungsanspruch nicht zu verlieren!, dann muss dies Betroffenen völlig aberwitzig und ausweglos erscheinen.

Rückzug in die Selbstisolation

Vielfach, belegt Trobisch-Lütge, münden hier Gegenwartserfahrungen in Resignation, Rückzug in Selbstisolation, nach innen gerichtete Aggressionen, Beziehungsstörungen, auch Suchtgefährdungen. Während Oppositionellen meist bewusst war, dass ihre Aktionen zu Bespitzelung, Diskriminierung, Brüchen in der Berufslaufbahn, Verhaftung und dergleichen führen konnten, waren die verletzlichsten Opfer vor allem jene, die scheinbar zufällig, etwa wegen so genanntem asozialen Verhalten, in die Fänge der Staatssicherheit gerieten. Nicht zu wissen, weshalb einem das Leben zerstört wurde, führte vielfach zu massivsten Traumatisierungen.

In mehreren Beispielen aus seiner Therapiepraxis belegt der Autor das perfide Vorgehen psychologisch geschulter Stasi-Vernehmer, mit dem sie zielgerichtet Reue, Minderwertigkeitsgefühle, Selbsthass bei den ihnen vollkommen ausgelieferten, von der Außenwelt isolierten U-Häftlingen hervorriefen. So gelang es einem Vernehmer nach dem Suizid der Mutter eines Inhaftierten, in ihm massive Schuldgefühle zu wecken: Er habe ihr mit seiner Inhaftierung so viel Schande bereitet, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen habe.

Vor allem der Sozialpsychologe, Bürgerrechtler und Schriftsteller Jürgen Fuchs, der selbst neun Monate Stasi-U-Haft durchlebte, setzte sich im Wissen um die besondere Situation politisch Traumatisierter vehement für den Aufbau einer Beratungsstelle für Verfolgte des DDR-Regimes ein.

Von Anfang dabei, fasst Stefan Trobisch-Lütge auf gut einhundert Seiten seine inzwischen zehnjährigen psychotherapeutischen Erfahrungen mit politisch Traumatisierten zusammen. Dieser Teil versteht sich vor allem als Sachbuch für Therapeuten, Mitarbeiter von Opferverbänden und Sozialbehörden, aber auch für Angehörige und Betroffene. Allerdings erschweren zahlreiche Fachtermini und diskutierte Positionen aus Fachpublikationen die Rezeption für den nicht vorgebildeten Laien. Zugleich geben jedoch markante Fallbeispiele einen Einblick in die öffentlich bislang kaum wahrgenommenen Spätfolgen von Diktatur und Repression.

Bevor der Autor aus der speziellen Problemlage für die Arbeit mit politisch Traumatisierten heraus für Fachkollegen ein mehrstufiges Therapiekonzept entwickelt, werden Therapeuten und Helfern auch die Tücken aufgezeigt, die sich aus den Erwartungshaltungen und Verhaltensmustern der politisch Traumatisierten ergeben können. Trobisch-Lütge macht deutlich, wie schmal der Grat zwischen aufzubauenden Vertrauen und unkritischem Solidarisieren ist, wie leicht sich Forderungshaltungen oder Abwehrreaktionen in den Betroffenen so verstärken, dass eine Therapie unmöglich wird. Nicht selten, so die Erfahrung des Autors, suchen stark Traumatisierte unterschwellig die Bestätigung: Keiner kann mir helfen.

Das späte Gift führt eindringlich vor Augen: Fast fünfzehn Jahre nach dem Ende der DDR ist der "Kampf um die Seelen" längst nicht beendet.

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