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Während die deutsche Justiz wartet und wartet

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Von: Matthias Arning

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Beteiligte des Frankfurter Verfahrens bei einer Ortsbegehung in Auschwitz, Dezember 1964.
Beteiligte des Frankfurter Verfahrens bei einer Ortsbegehung in Auschwitz, Dezember 1964. © Imago

Gleich nach 1945 bemüht sich Jan Sehn darum, die Verbrechen von Auschwitz zu ahnden – Filip Ganczak erzählt vom polnischen Fritz Bauer und von einem aufschlussreichen Stück Nachkriegsgeschichte.

Jan Sehn ist Polens Fritz Bauer. So zumindest stellt der Wallstein-Verlag es dar, um Interesse für den Krakauer Ankläger zu wecken. Fritz Bauer, Hessens Generalstaatsanwalt, verbindet man bis heute mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ohne ihn hätte es bedeutende Etappen der strafrechtlichen Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts im Land der Täter nicht gegeben. Ohne Jan Sehn in Polen auch nicht.

Bedeutende Verfahren der Strafverfolgung gegen NS-Täter unmittelbar nach Kriegsende gehen auf sein Konto. Darunter die Anklagen gegen den Kommandanten des Krakauer KZ Plaszow, Amon Göth, den Stellvertreter von Generalgouverneur Hans Frank, Josef Bühler, und Auschwitz-Kommandeur Rudolf Höß. Sie werden auf Sehns Betreiben hin 1946 nach Warschau gebracht, um dort Prozesse gegen sie eröffnen zu können. Ein Erfolg der „Polnischen Militärmission zur Untersuchung der deutschen Kriegsverbrechen“.

Warschaus Exilregierung hatte sich 1943 der „Moskauer Erklärung“ angeschlossen, mit der sich die Großmächte dazu verpflichteten, Verantwortliche für Kriegsverbrechen strafrechtlich zu belangen. Doch den Namen des Mannes, der sich die juristische Aufklärung des Unrechts zur Lebensaufgabe gemacht und auf die Sicherung der zeithistorischen Quellen gedrängt hat, kennen heute nur wenige, zumindest bislang.

Nun hat der junge Politikwissenschaftler und Journalist Filip Ganczak Jan Sehn eine Biografie gewidmet. Zwei Jahre nach der polnischen Originalausgabe ist sie auf Deutsch erschienen. „Jan Sehn und die Ahndung der Verbrechen von Auschwitz“ heißt das überaus lesenswerte Buch, das auf knappem Raum auch ein spannendes Kapitel des Kalten Kriegs erzählt. Auf dem Titelbild zeigt der Band ältere Männer in dicken Wintermänteln. Eine Aufnahme aus dem Dezember 1964, Dokument einer ganz besonderen Ortsbesichtigung: Eine Delegation aus Frankfurt am Main am Eingangstor zum Lager Auschwitz, allesamt juristisch mit dem seit einem Jahr laufenden Verfahren gegen 22 Angeklagte befasst. Die Ankläger, Staatsanwälte und Verteidiger sahen sich den mehr als 900 Kilometer von Frankfurt entfernten Ort an, der heute als Synonym für den Mord an den europäischen Juden steht: „Auschwitz“, das Todeslager, in dem die Nazis mehr als eine Million Menschen ermordet hatten.

Dafür steht der Ort. Und die bundesdeutsche Gedenkkultur lässt sich daran messen, inwieweit sie das in Erinnerung behält. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Krieg konnte davon allerdings keine Rede sein. Auschwitz, das lag hinter dem Eisernen Vorhang. Um so bedeutender war es, dass Jan Sehn in Polen und Harry Ormond, Nebenkläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess, sich nicht davon abbringen ließen, die Beteiligten an dem Verfahren im Westen Europas an den Tatort im Osten zu bringen.

Das Buch:

Filip Ganczak: Jan Sehn und die Ahndung der Verbrechen von Auschwitz. A. d. Poln. v. Lothar Quinkenstein. Wallstein 2022. 238 S., 26 Euro.

Eine Zäsur. Mit weitreichenden Wirkungen auf „die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit“, merkt dazu die Historikerin Sybille Steinbacher an – auch im Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Schließlich gab es zu diesem Zeitpunkt keine staatlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen. Vor allem der Druck der Vertriebenenverbände stand für die Regierung Adenauer bis in die 60er Jahre einer Verständigung entgegen.

Jan Sehn nahm sich bereits früh vor, keine Zeit verstreichen zu lassen, um Beweise für die Gewalttaten der Deutschen zu sammeln. Aus einer deutschstämmigen Familie kommend, beherrschte er die deutsche Sprache fließend, weigerte sich aber, sich während der Besatzung in Polen als „Volksdeutscher“ bezeichnen zu lassen. Sehn wohnte bereits dem Nürnberger Prozess als Beobachter für Polens Regierung bei. In Krakau wirkte er 1946 als Untersuchungsrichter im Verfahren gegen den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß. Im Verhör von Sehn stellt sich Höß als „gewissenhafter Täter“ dar, wie Biograf Ganczak hervorhebt. Deshalb sei er auch stets dabei gewesen, „wenn die Transporte ankamen, bei der Vergasung in den Gaskammern, bei der Verbrennung der Leichen“, wie Höß zu Protokoll gab.

Im Land der Täter stand zu diesem Zeitpunkt Verdrängung auf der Tagesordnung, Auschwitz war kein Thema. Bis zum 20. Dezember 1963. Der Tag, an dem Landgerichtsdirektor Hans Hofmeyer im Frankfurter Römer „die Strafsache gegen Mulka und andere“ aufrief. 22 Männer mussten sich auf Betreiben von Fritz Bauer wegen Mordes beziehungsweise der Beihilfe zum Mord in Auschwitz verantworten. Von den etwa 5000 in dem Vernichtungslager eingesetzten SS-Leuten belangten polnische Gerichte immerhin 800, deutsche Gerichte insgesamt 40 Täter.

Jan Sehn fragte sich, schreibt Filip Ganczak, „warum sich die deutsche Staatsanwaltschaft erst fünfzehn Jahre nach dem Kriegsende mit Auschwitz befasse“. Eine gute Frage, die Ganczak jetzt eindrucksvoll ins Gedächtnis bringt. Mit einem Buch über die Lebensgeschichte des Mannes, der bedauerlicherweise im Nachkriegsdeutschland kaum eine Rolle spielte. Filip Ganczaks biografische Skizze kann dazu beitragen, das zu ändern.

Jan Sehn starb am 12. Dezember 1965 in Frankfurt. Zwei Tage vor Beginn des zweiten Auschwitz-Prozesses.

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