Wackelnder Leuchter
Wie Frankreich: Gilles Roziers Liebesakteure sind keine Helden
In dieses Buch gerät man hinein wie in ein Familienfoto: ohne Umwege. Der Ich-Erzähler breitet es gleich zu Beginn vor dem inneren Auge des Lesers aus: Alle, fast alle sind darauf versammelt. Die Dicke in der Mitte, das ist die Mutter. Ihr zur Linken steht Tochter Isabelle mit Familie. Die andere, zur Rechten, ist Anne. Ohne Ehemann. Auch der Vater fehlt. Er ist "der große Abwesende dieses Krieges". Annes Mann ist zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits von der Résistance liquidiert worden. Aber sie hat ihre ganz eigene Art zu trauern: "Sie findet es herrlich, den Feind in sich eindringen zu lassen". Der Kristallleuchter wackelt unter ihrer deutsch-französischen Kopulation, sie schreit laut ihre Lust heraus. Der Ich-Erzähler formuliert es so: "Sie glich ihrem Land: leicht zu haben".
Der Feind, das war in diesem Fall Volker Hammerschimmel. Ein Deutscher, ein Soldat, einer von der SS. Auf dem Foto ist er nicht zu sehen, weil er es war, der es geschossen hat. Und dann muss da natürlich noch der Ich-Erzähler erwähnt werden: "Das bin ich", sagt er lakonisch, weil er uns mehr offensichtlich gar nicht verraten will, weil er uns neugierige Leser vor allem über eines im Unklaren lassen will: über sein Geschlecht. Sind es drei Schwestern, die auf diesem Familienfoto posieren? Oder doch zwei Schwestern und ein Bruder? Hier schon verlässt der Autor die Parallelwelt der Bilder und überlässt den Leser dem Reich der Literatur, die ihre Wahrheit dort entfaltet, wo sich die Wirklichkeit der Plausibilität des Lichtbildes verweigert, wo sie rätselhaft und verschwommen bleibt.
Nun müsste das Geschlecht des Erzählers nicht unbedingt interessieren, wenn es hier nicht um Eine Liebe ohne Widerstand ginge, um eine heimliche Liebe in einem Erdloch, eine Liebe zwischen einem französischen Kollaborateur, männlichen oder weiblichen Geschlechts, und einem verfolgten Juden, zu deren einzigem Augenzeugen der Leser wird. Zugegeben, das klingt nicht nach einer sehr originellen Konstellation. Aber es ist die Machart des Romans, die besticht. Denn der Leser will Bilder finden für diese unerhörte Liebe, damals in Frankreich zu Zeiten der deutschen Okkupation. Er will sich eine Vorstellung von ihm oder ihr machen können. Und deshalb wird er wie im Kriminalroman unweigerlich zum Spurensucher; er wird Ausschau halten nach den kleinen Fehlern, die den Täter verraten, nach den grammatikalischen Indizien, die den Erzähler entlarven könnten. Dummerweise ist dieser Fehler nicht dem Autor, sondern der Übersetzerin unterlaufen. Gilles Rozier wird an keiner Stelle verraten, ob hier eine Frau erzählt oder ein Mann. Er wird nur behutsam die Hinweise verdichten, dass die Liebesgeschichte, die er erzählt, eine zwischen Männern ist. Er erzählt sie, das macht die schlichte Eleganz dieses Romans aus, wie die Liebe selbst: sonderbar, rätselhaft und letztlich unentzifferbar.
In eben dieser Grauzone der Liebe hat er seinen Ich-Erzähler auch als Menschen angesiedelt. Er ist Deutschlehrer in der französischen Provinz. Menschen seiner Sorte machen die große Masse aus: Mitläufer. Sie gehen nicht in den Widerstand, sind aber auch keine überzeugten Kollaborateure. Sie opponieren höchstens im ganz Kleinen, gehorchen, wenn auch widerwillig. Sie sind niemals das Sandkorn im Räderwerk.
Der Ich-Erzähler liebt die deutsche Sprache, er lebt in der deutschen Literatur. Sein ganzer Widerstand besteht darin, auf Thomas Mann nicht verzichten zu wollen und eine kleine Geheimbibliothek im Keller einzurichten. Als er eines Tages von der Gestapo vorgeladen wird, geschieht das nicht etwa, weil er etwas Verbotenes getan hätte, sondern weil man dort seine Übersetzerdienste benötigt. Er hat nicht den Mut, sie zu verweigern und wird alle Juden der Stadt durch die Flure der Gestapo defilieren und hinter schweren Türen verschwinden sehen. Er wird auch dabei zuschauen, tatenlos, wie die als Kind schon geliebte Madame Bloch verschwindet. Und mit ihr eine Mutterfigur, denn die Kurzwarenhändlerin, die Baumwolle und Garne verkaufte, aber vor allem Küsse und Zuneigung verteilte, gab dem Ich-Erzähler jenen "körperlichen Kontakt", den man ihm "zu Hause versagte".
Es ist folglich keine Heldentat, wenn er eines Tages Herman, den Warschauer Juden mit den schönen blauen Augen, rettet. Sein Mut verdankt sich in diesem Augenblick eher einem plötzlichen, sehr körperlichen Verlangen. Er rettet Hermans Haut, weil er sie berühren will. Zwei Jahre, drei Monate und zwanzig Tage wird er Herman im Erdloch im Keller verstecken, hinter der Wand mit Thomas Mann und Heinrich Heine. Zwei Jahre, drei Monate und zwanzig Tage wird er seine Essensration mit ihm teilen, seinen Nachttopf lehren, wird er deutsche Bücher mit ihm lesen, wird er Herman sein Herzensbuch besorgen, Heines Gedichte auf Jiddisch, das der selbst versteckt hatte in seinem Untermietszimmer im Haus der Mutter einer Schülerin seines Retters. Der wird dieses Buch wiederbringen, auf den Knien seines Herzens. Und die Zuneigung wird umschlagen in Leidenschaft: "Ich ließ mich verschlingen, weil es sein musste. Ich war ein lebendiges Wesen. Endlich."
Eine Leiche im Keller
Die Liebe ohne Widerstand, sie findet in diesem Buch auf allen Ebenen, in allen Etagen statt: In der Belle Etage lässt sich Schwester Anne lauthals vom Feind vögeln, während unten, im Kellerloch, ein Jude und ein Kollaborateur ihre Lustschreie in Lumpen, Stroh und feuchter Erde ersticken. Es sind Eros und Thanatos, die in diesem Haus unter einem Dach wohnen. Denn die Lust ist in beiden Fällen nur das Vorspiel auf den Tod: Der Ich-Erzähler wird den SS-Soldaten erstechen und im Keller verbuddeln. Herman wiederum wird es mit diesem Toten unter seinen Füßen nicht lange aushalten. In Volkers Uniform wird er sich wieder in die Welt hinaus wagen - eine Verkleidung, die ihm zum Verhängnis wird: Herman, der Jude aus Warschau, erfolgreich versteckt zwei Jahre, drei Monate und 20 Tage, wird kurz vor der Befreiung Frankreichs erschossen - liquidiert von der Résistance: als Nazi.
Rozier erzählt diese Geschichte schnörkellos und lakonisch, zugleich zärtlich und voller Humor. Es ist die Liebeserklärung eines namenlosen Ich-Erzählers an einen Juden, von dem nur der Name bleibt. Es ist aber auch die Liebeserklärung des Autors an das Jiddische, an die Sprache seines in Auschwitz ermordeten Großvaters, die Rozier in Jerusalem gelernt hat und für die er sich heute einsetzt als Direktor des Pariser Hauses für jiddische Kultur, das die größte jiddische Bibliothek Europas beherbergt.
Im Roman wird diese Sprache, die man für "verfälschtes Deutsch" hätte halten können, zur Sprache der Liebe. Sie sprengt die Grenzen zwischen Täter und Opfer, zwischen Kollaborateur und Widerständler, zwischen Liebe und Tod. Es ist eine Art mystische Union in und durch die Sprachen, die sich offiziell Feind waren. So wohnt diesem Buch eine schwache messianische Kraft inne: Als habe Rozier die jiddischen Wörter, die plötzlich auftauchten "wie Flaschenteufel" aus einer anderen Zeit, aus der Vergessenheit in die Gegenwart hinüber retten wollen. Und mit der sterbenden Sprache ihre gestorbenen Sprecher. Als leiste die Liebe niemals Widerstand. Nicht einmal der Zeit.