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Das Vermächtnis Raul Hilbergs

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Bisher unveröffentlichte Essays und Erinnerungen des 2007 gestorbenen Historikers Raul Holberg: „Anatomie des Holocaust“ ist ein Ansporn zur weiteren Forschung des Holocaust.

Von Matthias Arning

Raul Hilberg setzte seine Sätze wie Seziermesser. Knapp, nüchtern, ohne jede Aufgeregtheit, treffsicher. Als Redner und in seinen Texten. Das Moralisieren war seine Sache nicht, ihm ging es um die Fakten, darum, Strukturen zu analysieren und zu verstehen. Der US-Historiker österreichischer Herkunft hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Holocaust zu erforschen – unmittelbar nach dem Ende des Krieges, zu einem Zeitpunkt also, als die europäischen Kollegen den Fokus noch längst nicht darauf gerichtet hatten.

Es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass Hilberg mit seinem grundlegenden Werk zur „Vernichtung der europäischen Juden“ nachhaltig gewirkt hat. Und dies, obwohl sein bereits 1954 fertiggestelltes Opus Magnum erst 1961 in den USA erschien und in Deutschland eine breitere Öffentlichkeit erst 1990 Hilbergs Hauptwerk wahrnahm, als Walter H. Pehle, Lektor des S. Fischer-Verlags, es in der „Schwarzen Reihe“ herausbrachte.

Nur folgerichtig, dass Pehle nun auch bislang unveröffentlichte Essays und Erinnerungen des 2007 verstorbenen Raul Hilberg herausgebracht hat, gemeinsam mit dem Zeithistoriker René Schlott, der an einer Biografie über Hilberg arbeitet. Zu den 13 unter dem Titel „Anatomie des Holocaust“ ausgewählten Aufsätzen aus den Jahren 1965 bis 2004 gehören Studien zur Reichsbahn, zur Ordnungspolizei und zur Rolle der Judenräte.

„Warum hat man diese Menschen umgebracht?“

Sie machen deutlich: Raul Hilberg ist der wichtigste Pionier der Täterforschung. Manche Fachleute hielten ihm vor, er habe sich zum frühen Zeitpunkt seiner Forschung zur Vernichtung der Juden zu eng an der Beschreibung der Täter über ihr eigenes Tun orientiert und die Opfer nicht oder zumindest zu wenig zu Wort kommen lassen. Tatsächlich hat Hilberg stets Strukturgeschichte betrieben und dabei nach den Akteuren des Geschehens gefragt.

Direkt, ohne Umschweife, stellt er 1965 die Frage aller Fragen: „Warum hat man diese Menschen umgebracht?“ Er spielt nun diverse Ansätze zur Erklärung durch, um sich dieser Frage anzunähern. Störten sich Deutsche daran, dass Juden als „Gewissen der Welt“ bezeichnet wurden? Hilberg betont: „Diese Nation war von den vielbeschworenen jüdischen Tugenden nicht sonderlich beeindruckt.“ Und weiter, gleichsam, um die Ungeheuerlichkeit der Dimension des Verbrechens deutlich zu machen: „Es ist eine Sache, sich provoziert zu fühlen, aber eine völlig andere, sich dazu provoziert zu fühlen, fünf Millionen Menschen umzubringen.“

Die Vernichtung der Juden im damals von Deutschen beherrschten Europa war ein Prozess, der einer „inhärenten Logik“ folgte, „unabhängig von dem Weitblick oder den Plänen der Täter“. Ein Prozess, der Hilberg zufolge vier Schritte beinhaltete: Die Täter mussten zuerst definieren, wer Jude ist, um ihnen dann ihr Eigentum zu nehmen, sie drittens an speziellen Orten „zu konzentrieren“, um sie, viertens, „vollständig auslöschen zu können“.

Opportunisten, Profiteure, Sadisten

Zu den Tätern gehörten Opportunisten, Profiteure und Sadisten. Doch ganz gleich, wie vielen von ihnen sich an der Vernichtungspolitik beteiligten, „die Zielstrebigkeit, die Effizienz und der Erfolg der Vernichtungspolitik lassen sich mit ihrer Mitwirkung allein nicht erklären“. Vielmehr glaubten die Täter an eine besondere Qualität ihrer Aufgabe: „Allein die Größe der Idee verlieh der Tat eine besondere Bedeutung“, notiert Hilberg zu den „Motiven der Deutschen für die Vernichtung der Juden“. Entscheidend für den Erfolg der Vernichtungspolitik in Deutschland und schließlich in Europa sei gewesen, dass Bürokraten „Eigeninitiative und Visionen“ entwickelten.

Daher – so Hilberg in betonter Abgrenzung zu Hannah Arendt – sei in dem Bösen nichts Banales zu finden. Der Bürokrat sei gerade nicht als „Rädchen im Getriebe“ zu verstehen, sondern sei „derjenige, der das ganze Getriebe in Gang hält“. Die Täter, hebt Hilberg hervor, hätten dem mörderischen Angriff „Sinn“ beigemessen und den ganzen Prozess als „Erlebnis“ erfahren.

Den Abschluss der Sammlung bildet ein Vortrag, den Hilberg im November 2004 in Yad Vashem gehalten hat. Er hob zweierlei hervor: Es sei einerseits eine weit größere Anstrengung in der Holocaustforschung unternommen worden, als er es je für möglich gehalten habe. Zum anderen könne man es sich aber nicht leisten, in den Bemühungen nachzulassen, „das Gesamtgeschehen möglichst umfassend zu rekonstruieren“. Selbst wenn die Gegenwart auch perspektivisch nicht das Gesamte erschließen könne.

Eine zentrale Rolle in diesem Bemühen hat Raul Hilberg eingenommen. In diesem Sinne ist die Lektüre der Aufsatz-Sammlung „Anatomie des Holocaust“ weiter Ansporn. Mit seiner knappen, klaren und nüchternen Sprache – dem Gegenstand seiner „Anatomie“ überaus angemessen.

Raul Hilberg: Anatomie des Holocaust. Hrsg. von Walter H. Pehle und René Schlott. S. Fischer Verlag. 336 S., 24,99 Euro.

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