1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Uwe Tellkamp: „Der Schlaf in den Uhren“ Die Hässlichkeit des Zipfelkrötenfroschs

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Judith von Sternburg

Kommentare

Uwe Tellkamp, hier vor ein paar Tagen im Hof des Buchhaus Loschwitz in Dresden. Foto: Sebastian Kahnert/dpa
Uwe Tellkamp, hier vor ein paar Tagen im Hof des Buchhaus Loschwitz in Dresden. © dpa

Ein Scheitern ohne Noblesse: Uwe Tellkamps uferloses Buch „Der Schlaf in den Uhren“ erzählt von einst, von heute und von einer enormen Verschwörung.

Heute ist der offizielle Erscheinungstermin eines seit mindestens zehn Jahren erwarteten Buchs, 2012 angekündigt für 2013, 2020 für 2021. Verzögerungen stehen dem schreibenden Menschen besser an, als es im Journalismus (dazu gleich mehr) möglich ist, ein Grund, Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu beneiden, wenngleich dazu ansonsten wenig Anlass ist.

Früh zeigte sich, dass Uwe Tellkamp seinen sehr erfolgreichen Roman „Der Turm“ fortsetzen wollte, 2008 als große klassische Vorwendeerzählung gefeiert, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, sodann von aller Welt gelesen und schließlich verfilmt. Eine Fortsetzung, obwohl das Ende des Buches auf einer Rangliste perfekter Romanschlüsse weit oben steht. Einzelnes, Diverses über die weiteren Pläne drang nach außen, bei Lesungen oder im bibliophilen Bändchen „Die Carus-Sachen“ von 2017.

Mehr gesprochen wurde darüber, dass Tellkamp inzwischen die „Charta 2017“ und die „Gemeinsame Erklärung 2018“ unterschrieb. 2017 ging es um den Protest gegen rechte Buchverlage auf der Frankfurter Buchmesse, aus „Charta“-Sicht darum, „wie zum scheinbaren Schutz der Demokratie die Meinungsfreiheit ausgehöhlt“ werde. 2018 ging es (in einem ziemlich infam unschuldig daherkommenden Zweizeiler) darum, „wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“

Beide Male war Tellkamp ein prominenter Unterzeichner. Man muss nicht herumkomplizieren, wenn es darum geht, die Heftigkeit der Kritik zu bewerten, die getreu der schönen deutschen Wendung „Wie man in den Wald ruft ...“ erfolgte. Tellkamp selbst sagt jetzt allerdings in einem Interview: „Wir werden behandelt, als wären wir Verbrecher.“ Nein, eigentlich nicht, oder? Der Satz fällt in dem Film „Der Fall Tellkamp. Streit um die Meinungsfreiheit“, den 3sat am 18. Mai ausstrahlt. In der Mediathek dann in voller Länge in fünf Teilen, im ZDF in einer kürzeren Fassung am 12. Juni, insofern mag über Meinungsfreiheit gestritten werden, aber dies in Ausführlichkeit und unter Gewährung derselben. Das Buchhaus Loschwitz in Dresden, geleitet von der „Charta 2017“-Initiatorin Susanne Dagen, twittert dazu: „Leute, zahlt GEZ!“

Der Druck, auf den „Turm“ etwas draufzusetzen, muss alles in allem groß gewesen sein, dazu die Gerüchteküche, im neuen Buch werde es politisch problematisch zugehen, der Verlag zögere darum. Oder handele es sich doch lediglich um künstlerische Schwierigkeiten (und: kann man sich bei Kunst etwas Schlimmeres vorstellen)?

Auf dieser Grundierung ist „Der Schlaf in den Uhren“ nun auf dem Markt, wie geplant bei Suhrkamp. Das ist vernünftig und desillusionierend. Der Verlag hält seine Verträge. Und jeder kann sich selbst einen Eindruck verschaffen von diesem Koloss und seinem Zustand. Diesem Koloss, das aussieht wie ein großes Buch, aber eine Ansammlung von Text ist, zweifellos sortiert und wieder und noch einmal sortiert, und sicher auch gekürzt, bearbeitet, und doch ist kein Roman daraus geworden. „Der Schlaf in den Uhren“ ist eine Romanrohbauruine.

Wenn man überlegt, dass keine freiere, großzügigere Form denkbar ist, gehört dazu schon einiges, zum Beispiel ein virulentes Konzeptionsproblem. Zum Beispiel das Aufeinandertreffen von Ambivalenzen, die nicht schärfen, sondern schwächen und dem Buch – das ist überraschend – etwas Verdruckstes geben.

„Der Schlaf in den Uhren“, so hieß auch der Text, mit dem Tellkamp schon 2004 und einhellig, was das Jury-Urteil betraf, den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt gewann. Der Siegertext taucht im Buch wieder auf, das Vielschichtige ist hier vor allem im zeitlichen Sinne zu verstehen. Nach vorne geht es dann bis ins Corona-Jahr 2021.

Die „Schlaf in den Uhren“-Ebene ist aber seine eindrucksvollste, nein, seine eindrucksvolle Ebene. Sie führt am unmittelbarsten an den „Turm“ heran und schildert die Vorwendezeit aus der Perspektive der damaligen Nebenfigur Fabian Hoffmann, Neffe des Arztes Richard, Sohn des Dissidenten Hans, Zwillingsbruder von Muriel. Hierzu gehört ein plastisch erzählter Abschnitt über die Lage in der überfüllten Prager Botschaft 1989. Oder das fabelhafte „Zauberberg“-Kapitel, das die Jagd nach dem raren Titel in DDR-Antiquariaten schildert, eine Feier des Romans, seines Autors und ferner der Papierform, wie sie sich auch in einer (Nachwende-)Lesesommer-Beschreibung spiegelt. Meno Rohde besitzt sicherheitshalber mehrere Exemplare von Lieblingsbüchern wie „Der Leopard“.

Meno Rohde, der Lektor von Judith Schevola, der Bruder von Anne Hoffmann, die inzwischen geschieden und Bundeskanzlerin geworden ist: Einige „Turm“-Geschichten werden in der Tat weiterverfolgt. Meno und Judith hadern mit Judiths neuem Buch. Politisches Unbehagen wird dabei überspielt durch breitgetretene Nebenschauplätze. Hat Judith alles überprüft? Auch ihre Behauptung, Zipfelkrötenfrösche seien auffallend hässlich? „Üble Nachrede war schlimm, womöglich auch für Zipfelkrötenfrösche.“ Tellkamps sardonischer Humor muss einem liegen, um ihn auf der langen Strecke zu ertragen. Sonst wird er bald fade.

Dass man auch Einzelheiten über eine Nassrasur erfährt, gehört in die Zettelwirtschaft des aus dem Leim gegangenen Buches. Leichter fällt es, sich die Auskünfte über Zwangsjacken zurechtzureimen, glänzende Prosa, die in der Textflut versinkt, Edelsteine zwischen sehr langen Gesprächen, sentenzhaften Passagen, immer wieder neuen Figuren, immer wieder neuen Erzählansätzen, Andeutungen, auf die Fabian nicht zurückkommt, Tellkamp ebenfalls nicht.

Spät erst kommt es auch zu dieser zentralen, stark erzählten Szene: Muriel hat sich in der Schule nicht zum ersten Mal defätistisch geäußert, „sie stempelte uns durch ihren Mut, ihr Aufsspielsetzen aller Zukunftschancen, zu Duckmäusern“. Die Schülerinnen und Schüler müssen einzeln antreten – keine und keiner will etwas gehört haben, das Schweigen könnte Muriel schützen. Es ist jedoch ausgerechnet ihr Bruder, der ihre Worte wiederholt, „weil plötzlich einer meiner Münder sprach und nicht die innere Stimme“. Fabian verspürt dabei – und Tellkamp formuliert es genial – „die Euphorie der Illoyalität“.

Daraus den Motor für das Buch abzuleiten, ist hingegen ein klassischer Klappentext-Versuch, dem Disparaten zu einer noch so schlängeligen Linie zu verhelfen. Obwohl Verrat ein fundamentales Thema sein könnte, bleibt Fabian eine schemenhafte, fadenscheinige Figur und bleibt seine Verwicklung in eine Stasinachfolgeorganisation viel blasser, als es der zweiten, wichtigen Ebene des Buches gut tun kann.

Denn Großes ist am Werk. Fabian zeigt sich 2015 als Mitarbeiter eines Untergrundnetzwerkes erheblichen Ausmaßes. Eine besonders beliebte Verschwörungstheorie erweist sich dabei kurzum als komplette Wahrheit: Unter dem Dach der Abteilung „Tausendundeinenacht“ werden offenbar alle Nachrichten-, Deutungs- und Meinungsorganisationen eines Landes zusammengeführt, das Treva heißt und der Bundesrepublik abgesehen von einigen geografischen Eigenheiten sehr ähnelt. Die „Hauptstrommedien“ – darunter die „Südtrevische Zeitung“ oder die „TRAZ“ –, die Trevische Nachrichtenagentur, der Geheimdienst und die Bundesregierung stimmen dabei die „Nachrichten“ mit- und aufeinander ab. „Wir sind die Sicherheit. Wir sind das Gehirn. Wir sind die Nachrichten“, fasst einer der Führungsköpfe zusammen.

2015 geht es vor allem um die Operation „Gold“, namentlich den Operativen Vorgang „Willkommen“, fußend auf einem Impulspapier aus dem „Amt für Migration und Fortschritt“, das Hüdanur Halabzadeh leitet. Wenn es einen hier besonders graust: Tellkamp verwendet auch insgesamt fürchterliche karnevalistische Scherznamen. „Es ging hier, wie das Impulspapier schon angedeutet hatte, um Integration, um Weltoffenheit, Willkommenskultur. Eine Operation ,Gold‘ hatte es schon einmal gegeben. Es war der Deckname für die Treuhandaktivitäten des Geschichtsphilosophischen Kombinats gewesen.“

Eine Journalistin wehrt sich am Anfang noch: „Sie lehne es ab, eine tendenziöse Berichterstattung zu beginnen, nur weil es Hüdanur Halabzadeh in den Kram passe.“ Ein Kollege dann: „Aber es sei doch keine schlechte Sache, bedrohten Menschen zu helfen“, und so ist man sich bald einig.

„Der Schlaf in den Uhren“ widmet dieser großen Verschwörung Platz und Fantasie, sie ist auch der Boden, auf dem Fabian und Tellkamp viele Aktualitäten und Ex-Aktualitäten einbauen. Etwa die Besetzung der Radebeuler Kulturamtsleitung mit einem der Neuen Rechten nahestehenden Kandidaten 2020. Im Buch zeigt sich, „dass das eigentliche Problem des B. darin besteht, unserer Kanzlerin widersprochen zu haben. Seit der auf demokratische Weise rückgängig gemachten Wahl herrschen wieder Ruhe und Frieden in Radebeul“. Oder die Kritik an der Schriftstellerin und Dresdner Stadtschreiberin Kathrin Schmidt 2021, die ihrerseits die Impfpolitik heftig kritisiert hatte. In der Romanwelt wird „K. S.“ als „staatsfeindlich“ apostrophiert, „man könne es ihren Impfäußerungen entnehmen“.

Grimmig ironische Vergrößerung ist das dabei immer wieder angewendete Mittel. Platt klingt es, platt ist es.

Dass viele, aber nicht alle Menschen unserer und vergangener Zeit unter lustigen Kunstnamen auftreten, gibt dem Erzählten einen Nimbus des Geheimnisvollen und Verbotenen. Dass einen die Entschlüsselung nicht ernsthaft interessiert – und da, wo sie auf der Hand liegt, was oft der Fall ist, auch nicht weiterführt –, ist charakteristisch (charakteristisch auch, dass etwa der bereits im „Turm“ auftretende Schriftsteller David Groth schon für Christoph Hein wie auch für Stefan Heym gehalten wurde, im Grunde kommt es darauf nicht an). Viele Namen fallen, sehr viele.

Von den geografischen Überraschungen Trevas war kurz die Rede. Elbe und Rhein rücken sich beispielsweise näher. Im Buchumschlag sind Pläne dazu abgedruckt, feine Skizzen, detailliert wie die Welt eines Fantasy-Romans. Erst dadurch wird einem klar, dass die Geografie dieser Welt aber völlig nebensächlich bleibt, man wird die Skizzen vermutlich nicht benutzen. Ebenso wenig das kursorische Personenverzeichnis. Ebenso wenig das „Verzeichnis von Inhalten“, vielleicht ebenfalls als Hilfestellung gedacht. „Verzeichnis von Inhalten“: Tellkamp-Sprachmarotte, aber ohne Artikel auch so beliebig und lose, wie es sich verhält.

Auch interessant

Kommentare