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Unter Spioninnen

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Von: Susanne Lenz

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Die Welt mit der Genaugkeit einer Insektenforscherin beobachtet: Michela Murgias raffinierter Sardinien-Roman "Chirú".

Die Beobachtung ist eine Kunst, die die verstecktesten Bewegungen erhascht. Sie versteht es, noch aus dem kleinsten Anhaltspunkt Informationen zu ziehen, die sich der Beobachtete nie freiwillig entlocken ließe. Doch was wäre die Analyse wert, würde der Scharfsichtige nicht auch über die Gabe des Ausdrucks verfügen. In der Kombination beider Fähigkeiten ist die aus Sardinien stammende Michela Murgia eine Meisterin. Wer die Menschen so raffiniert ausspioniert wie sie, der kann aus allem, was er erlebt, eine Lehre ziehen. Die Kapitel in diesem Buch heißen deshalb auch Lektionen. Und das Lernen beginnt früh, denn auch die Protagonistin, aus deren Perspektive erzählt wird, ist eine Beobachterin.

Als Emilia acht ist, verliert sie den unschuldigen Blick und beginnt, sich der Welt mit der Genauigkeit einer Insektenforscherin zu nähern. Nun ist sie Ende 30, eine erfolgreiche, selbstbewusste Theaterschauspielerin. Sie lebt allein, was in Sardinien ein Zustand außerhalb der Norm ist. Sie hat gelernt, denen, die fragen, dies als unvollkommen und unbefriedigend darzustellen. Eine Lüge. Aber: „Ich hatte noch nie das Verlangen, die Fassaden der anderen niederzutrampeln, wo es nicht nötig war. Abgesehen davon, dass es gefährlich ist: Niemand kann wissen, wie viel Lärm eine Gewissheit macht, wenn sie zerbricht.“

Dieser Art ist die Lebensklugheit Eleonoras und die Kraft des Ausdrucks ihrer Schöpferin. Und das ist die Situation, in der sie dem 17 Jahre alten Geigenschüler Chirú trifft. Die Begegnung beschreibt sie mit einer Metapher, wie sie nur einer Inselbewohnerin einfallen kann: „Chirú kam zu mir wie die Holzstücke an den Strand, geschliffen und verbogen, als Überrest eines langen Treibens.“ Der Junge ist wohl selbst ein angehender Spion, sonst würde er sich nicht mit derartiger Zielsicherheit Eleonora als seine Lehrerin auserwählen. Diese geschmackvoll gekleidete, gewandte Frau soll ihn in die Kunstwelt einführen. Und Eleonora kann seiner jugendlichen Unverschämtheit nicht widerstehen.

Die Kunstwelt hat ihren Auftritt, sie ist bevölkert von Männern deren Statur häufig proportional umgekehrt zur Macht steht, über die sie verfügen, auch solchen mit „zweifelhaften Talenten, aber unzweifelhaften Deltamuskeln“. Begrüßungen sind so überschwänglich, als habe man einen aus der Wiege entführten Bruder nach jahrelanger Suche wiedergefunden. Das ist amüsant.

Im Mittelpunkt aber steht die Beziehung zwischen der Lehrerin und ihrem Schüler. Sie entbehrt jeder Neutralität. Der Mensch ist zwar der kosmischen Macht des Begehrens unterworfen, aber er kann sich dabei zusehen, wie er ihr unterliegt. Und das tut Eleonora. Als Leser aus dem kalten Norden mag man manches als hart an der Grenze zum Kitsch empfinden. Es ist dies ein kulturell bedingtes Missverständnis. Der Fremde kennt die Codes nicht.

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