Unser Ende

László Krasznahorkai dokumentiert in seinem Roman "Baron Wenckheims Rückkehr" erneut extrem unterhaltsam, was Weltliteratur ist.
Die Überforderung, vor die László Krasznahorkai das Publikum in seinen literarischen Texten bedenkenlos stellt, geht stets mit rasanten Unterhaltungswerten einher. Eine später gar nicht mehr wichtige junge Frau schreit ewig ihren Vater an, einen auf dem Weg nach unten befindlichen Professor, der – schikaniert, hofiert, wieder schikaniert von einer minderbemittelten Motorradgang – nachher nur noch eine kleine Rolle hat, am Rande, wo allerdings die Musik spielt in „Baron Wenckheims Rückkehr“. Wie es in Krasznahorkais Büchern immer der Fall ist.
Auch eine romantische Klatschgeschichte wälzt sich genuss- und kunstvoll durch Buch und Ort, um sich zu einer lokalpatriotischen Hysterie aufzubauschen. Diese hat unter anderem zur Folge, dass die sympathische Stadtbüchereimitarbeiterin (die nachher auch nicht mehr wichtig ist) nicht schnell genug alle verfügbaren Werke zum Thema Argentinien heraussuchen kann.
Der Titelheld befindet sich auf der Reise in die alte Heimat. Steinreich soll er sein, verliebt soll er sein, noch immer in eine uralte Jugendliebe (auch er: uralt). Uns gegenüber macht der Autor kein Hehl daraus, dass Wenckheim ein abgewrackter Spieler ist, der von den entnervten Verwandten auf Nimmerwiedersehen nach Ungarn expediert wird. Es stimmt, dass er aus einer Laune heraus der Jugendliebe einen Brief geschrieben hat, für den er sich danach zu Tode schämte. Es stimmt, dass sie ihm nach langem Zögern geantwortet hat: „Ich erwarte Sie.“ Es stimmt, dass das ein eindrucksvoller Satz ist, auch wenn alles um ihn herum lächerlich ist. Zumindest hält er zwischen dem allgegenwärtigen Schnulz und der Möglichkeit für etwas Größeres die Waage. Zu etwas Größerem wird es freilich nicht kommen.
Der Jugendliebe ist das ebenfalls alles peinlich, jedoch hat sie leider ihrer besten Freundin davon erzählt und nun wissen alle Bescheid. Der Baron kehrt als Millionär (Milliardär) zurück, die Liebe ist der Grund dafür, und mit dem Kaff wird es endlich wieder aufwärtsgehen. Die so verblödete wie gemeingefährliche rechtsextreme Motorradgang (das ist im Buch untrennbar: die Verblödung, die Gemeingefährlichkeit, das Rechtsextreme) bietet während des euphorischen, organisatorisch jedoch aus dem Ruder laufenden Empfangs am Bahnhof ein Hupkonzert auf „Don’t Cry for Me Argentina“. Denn der Kitsch gehört ebenfalls dazu. Die Verblödung, die Gemeingefährlichkeit, das Rechtsextreme und der Kitsch. Wenn man so ist, darf man nicht in László Krasznahorkais Fänge geraten.
Unterdessen verpufft aber die Liebesgeschichte auf die schlimmstmögliche Weise, Krasznahorkai weiß selbstverständlich, welche das ist, die schlimmstmögliche Weise, auf die eine alte Liebesgeschichte verpuffen kann. Dies geschieht aber nach hunderten von Seiten (aber hunderte Seiten vor dem Schluss), in denen sich die Zeit gewaltig gedehnt hat. Hier die wachsende Aufregung im Kaff. Dort der Baron auf der langen Fahrt, auf der ihm, einem stillen, weichen Mann, Ungarn, „die alte Heimat“, schon märchenhaft erscheint, aber die lange Fahrt kommt ihm auch rasend schnell vor, heillos verhetzt, „dieses kopflose Vorwärts nach Osten“. Während also der Roman über hunderte Seiten auf einen Höhepunkt zurast – Baron Wenckheims Rückkehr –, verläuft dieser Höhepunkt dann für alle Beteiligten auf unterschiedliche Weise unbefriedigend. Der Baron ist nicht nur nicht reich, sondern ein armes Würstchen, ein armes, uninteressantes Würstchen, außer er wäre der Autor des Anti-Ungarn-Pamphletes, das später der örtlichen Zeitung vorliegt – „Ein so abstoßendes Volk wie euch hat die Erde noch nie auf ihrem Rücken getragen ...“ – und zu einer sagenhaften Zensur-Satire führt.
Denn die Ereignisse in dem Kaff, das wie oft bei Krasznahorkai an das Städtchen Gyula erinnert, in dem der Autor 1954 geboren wurde, sind im Großen und Ganzen unerklärbar und beiläufig, obwohl sie eben im Einzelnen total interessant und unterhaltsam sind. Es ist ein unsägliches Geschnatter, das von der Übersetzerin Christina Viragh so genial in ein mündliches Deutsch gebracht wird – inklusive der überfälligen Literarisierung der Wendung „doderfür“ (die leicht variiert auch Hessen vertraut ist) –, wie sie mit den berüchtigten Langsätzen spielend fertig wird. Es geht dabei ja nicht um eine Verkomplizierung, sondern um reine Atemlosigkeit, ein Spiel, das Viragh zauberhaft leichthändig mitspielt. „Baron Wenckheims Rückkehr“ ist nicht schwierig zu lesen. Es ist der Plan dahinter, den man nicht erfassen kann. Es ist ein übler Plan. Er geht einer Apokalypse im Sinne eines Weltenbrandes, einer Kaff-Abfackelung entgegen.
Das böse Ende kündigt sich an. Die Menschen staunen wohl, aber sie reagieren nicht. So sind sie, die Menschen, denen darum keiner helfen kann, auch wenn Krasznahorkai-Leser doch im Bilde sind, aber auch sehr verzweifelt. Und „Baron Wenckheims Rückkehr“, 2016 auf Ungarisch erschienen, nicht umsonst gerade im englischsprachigen Raum (Amerika und Großbritannien) bereits ein großer Erfolg wurde (anknüpfend an den Welterfolg von „Satanstango“). So ungarisch einem vieles vorkommen mag, so beweist der Roman erneut, wie Weltliteratur von der Provinz aus ihre universellen Maßstäbe erreicht.
Den Lesern sagt Krasznahorkai es gleich frisch und frei heraus. Er „liebe die Musik nicht“, teilt ein (natürlich rätselhafter) Erzähler vorab mit, „beziehungsweise das, was wir hier jetzt gemeinsam produzieren werden, ich liebe sie, sagen wir es, überhaupt nicht, ich habe hier lediglich die Aufsicht, ich bin der, der nichts hervorbringt, sondern nur vor jedem Ton präsent ist, denn ich bin derjenige, der hier, weiß Gott, nur aufs Ende dieses Ganzen wartet“.
Zweimal noch, mitten im Geschnatter, mitten im Schwadronieren, Hoffen, Hadern, Leben, wird die Handlung unterbrochen werden von der Durchfahrt eines mysteriösen dunklen Auto-Konvois, satanisch (wahrscheinlicher) oder göttlich (ebenfalls gut möglich), angestiert, ohne dass die Menschen wissen, wie ihnen geschieht. Beim ersten Mal steigt einer aus, „das Zentrum“, „der Gegenstand dieses Staunens“, sieht sich „mit totem Blick und eisiger Gelangweiltheit um“, steigt wieder ein, „da ihn diese Stadt und ihre Geschichten nicht interessierten“. Er war, heißt es weiter, „böse – böse, krank und allmächtig“. Beim zweiten Mal – was sind das für Automarken, wie ist es möglich, dass sie so lautlos „durchwischen“? – wird der Erzähler noch ausführlicher und bitte beachten Sie, wie auch Christina Viragh dem Unbeschreiblichen einfach Worte zu geben vermag: „... jemand, der sie sah, wenn es den gegeben hätte, hätte spüren können, dass diese außerordentlich, gigantisch, unaussprechlich riesige Angelegenheit keinen Sinn hatte, keinen Sinn in sich schloss, nein, aus dieser Angelegenheit war der Sinn ausgeschlossen, so wie sie auch keinen Grund hatte, denn aus dieser Angelegenheit, die ihn mit seinem Konvoi so sehr hetzte, war auch der Grund ausgeschlossen, ebenso jeglicher Zweck, so hatte sie weder Sinn noch Grund noch Zweck, das hätte das Wesentliche dieser Angelegenheit sein können, wenn die Wörter im Kopf des Augenzeugen, der obendrein gar nicht da war, den Dienst nicht versagt hätten, auch die Wörter in diesem Kopf wären stehengeblieben, die Manifestation der ungeheuren Kraft, mit der er sich bewegte, machte alles Existierende zunichte, machte aber auch das Zunichtemachen unmöglich, da es alles unmöglich machte, was war oder hätte sein können ...“.
So dass Krasznahorkai kurzum von Leben und Tod erzählt, von den Dingen zwischen Himmel und Erde, von der Lächerlichkeit des Menschen und der Schamlosigkeit des etwaigen Allmächtigen, eine Parabel über die Welt von heute schreibt und laut und munter schreibt und in der Mittel ist ein stiller Graus. Man versteht alles und begreift es nicht, lacht aber auch ganz vergnügt über sich selbst.