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„Über Israel reden“ von Meron Mendel: „Wir schauen auf Israel und sehen uns selbst“

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Von: Lisa Berins

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In Berlin lebende Israelis protestieren gegen Netanyahu vor dem Brandenburger Tor EUR, Europa, Deutschland, Berlin, 16.0
In Berlin lebende Israelis protestieren gegen die Politik von Benjamin Netanjahu. © Imago

Das Buch„Über Israel reden“ von Meron Mendel ist für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. In der Frankfurter Rundschau spricht er über deutsche Befindlichkeiten in der Debatte über Nahost, legitimen Boykott - und ein sinnloses Konzertverbot.

Herr Mendel, über Israel reden – das versuchen Sie immer wieder, vor einigen Wochen auch im „Spiegel“ mit dem Pink-Floyd-Mitgründer Roger Waters, der den Boykott gegen Israel unterstützt. Fazit des Gesprächs: Manchmal macht es eben doch keinen Sinn, oder?

Ich hatte nicht die Erwartung, Roger Waters zu überzeugen, vielmehr sollten die Leserinnen und Leser des Gesprächs zwei gegensätzliche Positionen sehen und sich dann selbst eine Meinung bilden. Nur weil ich mit Roger Waters spreche, heißt es nicht, dass ich mich mit seinen Positionen gemein mache. Ich denke, man konnte die Differenzen zwischen unseren Haltungen sehr gut erkennen. Von daher hat es sich gelohnt.

Die Reaktionen in den Sozialen Medien waren nach dem Gespräch erwartungsgemäß hart, nach dem Motto: wie konnten Sie nur mit einem Antisemiten sprechen? Macht Ihnen so ein aufgeheiztes Klima keine Angst?

Der Vorwurf, ich wäre derjenige, der Roger Waters die Legitimität verschaffe, ist völlig realitätsfremd. Er hat Adelstitel von der britischen Queen bekommen, hat Millionen Fans weltweit, er braucht mich nicht als Legitimation für seine Positionen. Es gibt Leute auf Twitter, deren Geschäftsmodell es ist, sich ständig zu empören. Ich kann aber diese Art der Dauerempörung nicht ernst nehmen. Oft wird sie nach der Logik der Kontaktschuld erzeugt: Du hast dich mit Person X getroffen, ergo: du bist genau so schlimm wie sie. Darin zeigt sich schon das Problem: Wir haben als Gesellschaft die Fähigkeit verloren, einem Argument ein Gegenargument entgegenzusetzen. Es funktioniert inzwischen so, dass Etiketten ausgetauscht werden und Menschen danach dem einen oder anderen Lager zugeordnet werden.

Sie waren gegen ein Verbot des Konzerts in Frankfurt, richtig?

Ich finde, es ist ein Skandal, wie sich Roger Waters nicht nur über Israel, sondern auch über die Ukraine und Russland, zu Taiwan und China, zu Syrien äußert. Wenn jemand in jedem Diktator dieser Welt etwas Gutes sieht und für alles Böse Israel verantwortlich macht, dann ist etwas in seinen moralischen Koordinaten grundsätzlich falsch angelegt. Aber darum geht es in Bezug auf das Konzert in Frankfurt nicht. Es geht um die Frage, ob eine politische Instanz, sei es ein Bürgermeister oder Staatssekretär, die Macht haben sollte zu beurteilen, ob jemand aufgrund von politischen Positionen seinem Beruf nachgehen darf oder nicht. Es geht um ein Grundrecht, und so argumentiert auch das Verwaltungsgericht. Ich will nicht in einem Land leben, in dem gesagt wird, weil diese Person so und so denkt, darf sie nicht auftreten oder keine Schuhe verkaufen oder keine Bücher schreiben oder was auch immer. Es ist ein Grundsatz unserer liberalen, demokratischen Gesellschaft, dass Menschen in der Öffentlichkeit Meinungen äußern können, die wir als schlimm und falsch empfinden.

Meron Mendel ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und seit 2021 zudem Professor für transnationale soziale Arbeit an der University of Applied Sciences. Er forscht unter anderem zu Antisemitismus und Erinnerungskultur.
Meron Mendel ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt und seit 2021 zudem Professor für transnationale soziale Arbeit an der University of Applied Sciences. Er forscht unter anderem zu Antisemitismus und Erinnerungskultur. © dpa

Auch, wenn es antisemitische Stereotype sind?

Die Ächtung von Antisemitismus ist an allererster Stelle die Aufgabe der Gesellschaft. Erst wenn der Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt ist, kann und darf die Justiz eingreifen. Darüber muss ein Gericht entscheiden. Alles andere ist deshalb weder gut noch koscher, aber es kann nur im gesellschaftlichen Diskurs verhandelt werden, und dem dürfen wir uns nicht entziehen. Im Fall des Waters-Konzerts habe ich nichts dagegen, wenn Menschen vor der Festhalle protestieren, das ist völlig legitim. Jede und jeder von uns hat die Möglichkeit, nicht zum Konzert zu gehen und andere davor zu warnen. Roger Waters tritt in vielen Städten in Deutschland auf, ich frage mich, warum gerade Frankfurt meint, dass alle anderen Städte keine Ahnung hätten und es nur hier zulässig ist, es zu verbieten. Die Stadt und das Land Hessen wussten ganz genau, dass sie rechtlich verlieren würden. Trotzdem haben sie versucht, das Konzert zu verbieten, nur um sich keine Untätigkeit vorwerfen zu lassen. Im Endeffekt haben sie Roger Waters damit einen großen Gefallen getan, er konnte sich jetzt überall als Opfer darstellen. Ich finde nicht, dass klug gehandelt wurde.

Sie selbst waren in den 1990ern als linker Israeli Soldat in der Golani-Einheit, die in Hebron im Westjordanland 500 israelische Siedlerinnen und Siedler schützen sollte. „Mich beschlich das Gefühl, auf der falschen Seite zu sein“, schreiben Sie im Buch. Wie sehen Sie das heute – auf welcher Seite sind Sie, und fühlen Sie sich dort wohl?

Die Beschreibungen aus meiner Armeezeit habe ich bewusst an den Anfang des Buches gesetzt, um meine eigene biographische Verstrickung im Konflikt transparent zu machen. Meine Einberufung zur Armee erfolgte zwei Wochen nach der Ermordung von Jitzhak Rabin durch einen jüdischen Fundamentalisten. Bis dahin glaubten ich und viele meiner Freunde, kurz vor einem Frieden in Nahost zu stehen. Als ich als Soldat im Westjordanland stationiert war, glaubte ich, dass ich damit meine Familie in Israel vor Terroranschlägen beschütze. In Hebron wurde mir aber klar: Ich schütze nicht meine Familie, sondern eine Gruppe von jüdischen Fundamentalisten, deren Wertekanon sehr weit weg ist von meinem eigenen. Dort habe ich auch den Rechtsextremisten Itamar Ben-Gvir kennengelernt, der heute Minister für Nationale Sicherheit in Israel ist. Diese Fundamentalisten, die ich damals kennengelernt habe, sind heute an der Macht.

In Ihrem Buch geht es primär nicht darum, über die aktuelle israelische Politik zu reden, sondern darum, die in Deutschland geführte Debatte über Israel zu analysieren. Diese „deutsche Debatte“ über Israel ist von der eigenen Vergangenheit und Schuld geprägt. Sie sagen nun: Es geht in diesem Diskurs gar nicht vorrangig um eine moralische Wiedergutmachung, auch nicht darum, in Nahost Frieden zu schaffen. Worum geht es eigentlich?

Es geht vor allem um ein deutsches Selbstbild. Wir schauen auf Israel, aber wir sehen nicht Israel oder Palästina, sondern wir sehen uns selbst. Je nachdem, wie ich mich dazu positioniere, präsentiere ich mich; als jemand, der aus der Vergangenheit gelernt hat und moralisch über anderen steht, weil ich immer auf der Seite von Israel bin. Oder als jemand, der denselben Prozess durchlaufen hat und jetzt sogar Israel kritisieren kann. Im Endeffekt geht es immer um uns selbst und unsere Attribute des Aufgeklärtseins. Wenn beispielsweise der palästinensische Präsident Mahmud Abbas in Berlin behauptet, dass Israel „50 Holocausts“ begehe, dann sagt der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein nicht: „Das ist historisch falsch.“ Sondern er sagt: „Das ist unsensibel uns, den Deutschen, gegenüber.“ Es geht immer um eine deutsche Befindlichkeit. Wir sind so traumatisiert, wir haben so viel reflektiert. Wir sind die Weltmeister der Erinnerungskultur, und der palästinensische Präsident soll uns bitte deshalb mit Samthandschuhen anfassen. Natürlich spielt die deutsche Vergangenheit eine Rolle. Aber sie darf nicht die einzige Brille sein.

das Buch

Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Kiepenheuer& Witsch, Köln 2023, 224 S., 22 Euro.

Wie konnte es zu dieser Sichtweise kommen?

In Westdeutschland spielte Israel in der Bevölkerung und in der Politik lange Zeit eine erstaunlich unwichtige Rolle. Von 1954 bis 1964 wollte Israel diplomatische Beziehungen mit Deutschland aufnehmen, aber die BRD hatte kein Interesse daran. 1989 war eine Zeitenwende. Davor war allen klar, man ist auf der richtigen Seite und hinter der Mauer sind die Faschisten beziehungsweise die Kommunisten. Mit der Wiedervereinigung entstand ein Vakuum in der deutschen Orientierung in der Welt. Deutschland wollte auf der „richtigen“ Seite der Weltgeschichte stehen, und dann war klar, dass diese auf der Seite eines jüdischen Kollektivs, auf der Seite von Israel ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese neue Orientierung am stärksten geprägt, als sie 2008 vor der Knesset erklärte: „Israels Sicherheit gehört zur deutschen Staatsräson.“ Dieser Satz definierte wie kein anderer das neue deutsche Verhältnis zu Israel. Er wirkte tatsächlich wie ein Urknall. Merkel behauptete, dass ihre Vorgänger diese Haltung ebenso vertreten hätten – was nicht stimmte. Sie hatte etwas ganz Neues ins Spiel gebracht, zusammen mit dem Versprechen, diese Aussagen dürften „in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“ Doch was das genau bedeutet - welche Bedingungen daran geknüpft sind, ob das Versprechen auch dann gilt, wenn Israel keine Demokratie mehr ist – das wurde nie definiert. Dennoch fehlt seit 2008 in keiner Rede über Israel die Formel der „deutschen Staatsräson“.

„Die deutsche Politik kann auf Dauer schwerlich an Merkels Konzept der Staatsräson festhalten“, formulieren Sie im Buch. Ist die Unterstützung Israels also keine deutsche Pflicht?

Das muss immer an die politischen Gegebenheiten gebunden werden. Diesen Satz habe ich explizit mit Blick auf die ultrarechte Regierung in Jerusalem so formuliert. Die deutsche Verpflichtung gegenüber Israel darf nie ein Blankoscheck sein. Das schafft falsche Anreize für die religiös-nationalistische Regierung, die meines Erachtens die größte Sicherheitsbedrohung für die Zukunft des Landes ist. Viel mehr als der Iran oder die Palästinenser. Eine moralische Außenpolitik Deutschlands darf sich nicht an einem imaginierten, sondern muss sich an einem realen Israel orientieren, in dem liberale, aber auch menschenverachtende Kräfte agieren.

Mit der postkolonialen Sichtweise hat sich die Debatte um Israel noch einmal verschärft. Sie sehen die BDS-Bewegung nicht als gewaltfreien Widerstand gegen die Siedlungspolitik, sondern als „totalitäre Ideologie“. Wie meinen Sie das, wo liegt der Denkfehler der BDS-Bewegung?

Die Bewegung erklärt alles, was mit Israel zu tun hat, zum Feind. Das ist ein klares Freund-Feind-Schema – da sehe ich das Totalitäre. Wenn Leute gerade aus Solidarität mit den Palästinensern ein deutsch-palästinensisches Friedensprojekt boykottieren, weil es bedeutet, dass man auf einem israelischen Flughafen landen müsste, ist das ist für mich ein Beispiel, dass man in totalitären Mustern denkt, die keine Differenzierung erlauben. Genau solche Erfahrungen habe ich in einem Austauschprojekt hier in Frankfurt gemacht. Diese radikalen Ideologien schaden mehr, als sie irgendwem helfen. Und auch im Ergebnis bringt der Boykott dieser Bewegung nichts: Israels Bruttoinlandsprodukt ist nicht um 0,001 Prozent kleiner geworden durch den BDS-Boykott. Ganz im Gegenteil, es ist seitdem deutlich gestiegen. Das einzige, worin der BDS erfolgreich ist, ist die Verhinderung von Dialogprojekten. Nahezu 100 Prozent der israelisch-palästinensischen Friedensprojekte sind unmöglich gemacht worden – ein trauriges Resultat.

Seit Antritt der neuen israelischen Regierung wird der Siedlungsbau noch massiver vorangetrieben. Ohne Druck von außen wird er kaum zu stoppen sein – wie sollte dieser Druck aussehen Ihrer Meinung nach?

Die Pläne der jetzigen israelischen Regierung müssen durch Druck von innen und von außen verhindert werden, das steht für mich außer Frage. Die US-Regierung zeigt Netanjahu klare Kante, indem sie ihn bisher nicht nach Washington eingeladen hat. In der deutschen und europäischen Politik braucht es auch diese klarere Kante gegenüber der israelischen Regierung. Der Stopp des Siedlungsbaus muss ganz oben auf der Prioritätenliste von Israels Verbündeten stehen. Aber ich verwehre mich gegen die Vorstellung, das sei eine reine BDS-Forderung. Der BDS hat kein Monopol darauf, Druck auf die israelische Regierung auszuüben.

Auf der anderen Seite äußern Sie Verständnis für propalästinensische Positionen und sagen, dass die Menschen, die unter der Besatzung leben müssen oder deren Vorfahren vertrieben wurden, ein Recht darauf hätten, die Besatzungsmacht zu hassen. Palästinensische Positionen würden zudem zu schnell als antisemitisch abgekanzelt. Das heißt: Israelboykott ist nicht per se antisemitisch und durchaus legitim?

So ist es. Ich kaufe keine Produkte aus den besetzten Gebieten, seit ich 15 bin. Dahinter steht, das würde ich von mir behaupten, keine antisemitische Haltung. Was bei einigen Unterstützerinnen und Unterstützern des BDS die Motivation ist, darüber lässt sich spekulieren. Die Bewegung ist ein Sammelbecken für Menschen, die sich offen antisemitisch äußern. Was wiederum nicht die ganze Bewegung antisemitisch macht. Der Boykott ist ein legitimes Mittel, es ist allerdings nicht legitim, wenn Menschen lediglich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit ausgegrenzt oder ausgeladen werden, unabhängig von ihren Positionen. Problematisch ist auch die Forderung des BDS, alle arabischen Gebiete zu befreien, was so verstanden werden kann, dass Israel nicht mehr existieren soll.

Mittlerweile hat aber auch der Kampf gegen BDS ein Eigenleben entwickelt. Das Aussprechen von Einladungen zu Festivals, Ausstellungen, Diskussionen ist zu einer Gesinnungsfrage geworden. Der Nahost-Konflikt werde nicht hinter dem DJ-Pult eines Berliner Clubs entschieden, heißt es in „Über Israel reden“. Aber: Sollte man denn nicht im Sinne einer Nulltoleranz gegenüber Antisemitismus wirklich sehr stringent sein und diesen Haltungen keine Bühne bieten?

Ich finde, Organisatoren und Organisatorinnen von Kunst- und Kulturfestivals sollten nach inhaltlichen Kriterien entscheiden, wen sie einladen, und nicht danach aussortieren, was Leute vor fünf oder sieben Jahren gesagt haben. Das kann schnell zu einer Schieflage führen, und wo wäre da überhaupt die Grenze? Allerdings muss darauf geachtet werden, dass die Gatekeeper selbst nicht den BDS unterstützen; also Kuratorinnen und Kuratoren, die Leitung von Festivals. Die „Gesinnungsprüfung“ geht übrigens sehr einfach: Man lädt auch jüdisch-israelische Künstlerinnen und Künstler ein, und dann kommen die militanten BDS-Unterstützerinnen und -Unterstützer von selbst nicht, weil sie nicht auf einem Festival neben jüdisch-israelischen Künstlern auftreten wollen. Dann grenzen sie sich selbst aus und fallen ihrer eigenen totalitären Denkweise zum Opfer.

Warum ist eigentlich die Kulturszene der Schauplatz für diese Diskussionen um den Nahostkonflikt geworden? Soll hier etwas exemplarisch gerichtet werden?

Es ist, denke ich, auch ein Konflikt zwischen zwei Milieus: In der Politik hat sich eine sehr starre Haltung zu Israel entwickelt, die ich im Buch kritisiere. In der Kunst und Kulturszene, in der es eine andere Orientierung gibt, die stark von den postkolonialen Denkweisen beeinflusst ist, hat sich eine andere Strömung etabliert – das haben wir bei der Documenta gesehen, aber auch schon vorher in der Mbembe-Debatte. Und diese beiden Strömungen prallen aufeinander. Das geschieht Meilen über den Köpfen der Gesamtgesellschaft. Das ist auch ein Problem. Hilfreich ist diese Art der Debatte nicht, weder für die Menschen, noch für den Frieden in Nahost.

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