Tristesse oblige

Anders Petersens "Café Lehmitz"
Von ULF ERDMANN ZIEGLER
Er war nie ganz vergessen, aber seit drei Jahren wird Anders Petersen, Jahrgang 1944, "lebt und arbeitet in Stockholm", in der ganzen Breite seines Werks wiederentdeckt. Nun ist also auch Café Lehmitz wieder da, das als graues, biegsames Heft vor 26 Jahren in die Welt hinaus ging und an entlegenen Orten Ideen pflanzte. Lothar Schirmer hat den Klassiker nun in zeitgenössischer Form wieder verlegt.
Im alten Vorwort von Roger Anderson, der um einiges älter ist als Petersen und in München lebt, bleibt der Fotograf 34 Jahre alt. Er war, ursprünglich (erzählt Anderson), als gescheiterter Gymnasiast nach Hamburg gekommen, war auf der Reeperbahn bei einer rührenden finnischen Hure eingezogen und hatte aus ihrer Sicht im therapeutischen Milieu am Ostrand der Reeperbahn teilgenommen. Wanja schickte ihn bald nach Hause, und just in den entscheidenden Jahren 1968 und 1969 kehrt Petersen, nun fotografisch geschult, nach Hamburg zurück.
Zehn Jahre trennen also, dennoch, diese intensive Arbeit von ihrer Publikation. Nun als Mittdreißiger, hatte sich Petersen seine Gedanken gemacht über die Wracks der kapitalistischen Gesellschaft und über die ehrliche Fotografie, die den Launen seiner Modelle angeblich gerecht wird. Er kann sich kaum entscheiden: In Schweden werden Alkoholiker in "Männerheimen" versteckt, was ihm nicht passt; in Hamburg macht die Stadt Reklame mit der Reeperbahn, was er angesichts des geschauten Elends "obszön" findet.
Was da nach Mitternacht zwischen Bärenpils, Jägermeister, dem "Big Day"-Flipper und der Wurlitzerbox - man hört sie ja nicht - abgeht, ist die Tragödie des angehaltenen Warentauschs: einige, die den Ausstieg verpasst haben und andere, die noch von ihrer Rettung träumen. Während Männer trunken an den Leibchen derangierter Weiber herumfummeln, ist für diesen Augenblick zwischen Wettsauferei, kostenlosen Entblößungen und sinnlosen Hahnenkämpfen in der tiefen schwarzen Körnung der Kleinbildfotografie alles in Ordnung. Ohne Zweifel ist es Petersen gelungen, sich in die besten Stunden der Verzweifelten einzuklinken.
Es war eine uralte Subkultur, die soeben unterging, und es kann durchaus sein, dass der Fotograf Anders Petersen sich dessen gar nicht einmal bewusst war. Er nahm die Masken seiner Figuren für bare Münze, Tauschwert null, und gravierte sie in seinen kalten Fries, noch Robert Frank und schon Fellini, ganz die Klassik des kalten Schweißes unter Neonlichtern. Als das Billigmilieu, in dieser archaischen Form, längst erloschen war, besann sich Tom Waits und entlieh einem "Café Lehmitz"-Paar sein LP-Cover für die "Rain Dogs", das zur fotografischen Ikone seiner Spelunkenstimme wurde: Fünfziger-Jahre-Sailor am Mutterbusen. Da war allerdings auch die Zeit der LP als Original schon fast vorbei.
Unterbrochen wird der altertümliche Fluss der Bilderzählung von einer Strecke, in der der Kneipenraum verdunkelt ist. Der Fotograf fängt die Figuren im Restlicht ab, das von der Straße her einfällt. Auf dieser Tanzparty sehen die Lehmitzer aus, als würden sie von TV-Mimen dargestellt; ein kleiner Wink, dass Hedonismus auch freiwillig zu haben sein könnte.
Das Café Lehmitz, ein früher Versuch in der Fotografie der Autoren, kommt nun zurück als blitzblankes gebundenes Schirmer/Mosel-Buch, zweisprachig, der Klassiker als verbesserte Ausgabe. Hoffentlich bekommt es keinen Preis als "schönstes Buch", denn das ist es - immer noch - nicht. Anders als Anders Petersen mit 34 Jahren glaubte, war es nicht die Nähe zu den Protagonisten, sondern die sichere Distanz zu ihnen, die das Café Lehmitz positioniert zwischen Ed van der Elskens Liebe in St. Germain des Prés und Larry Clarks Tulsa, der Verliererliteratur des Genres.