Touhami Ennadres New Yorker Zyklus
Ein Grund, warum authentische Bilder vom 11. September 2001 in New York rar sind, mag die sofort verordnete polizeiliche Zensur gegen die Fotografen der
Von ULF ERDMANN ZIEGLER
Ein Grund, warum authentische Bilder vom 11. September 2001 in New York rar sind, mag die sofort verordnete polizeiliche Zensur gegen die Fotografen der freien Presse sein. Ein weiterer Grund ist die merkwürdige Uniformität der Überlebenden im Staub der Straßen von Lower Manhattan. Ein dritter ist möglicherweise, dass die noch Suchenden und schon Trauernden sich sehr bald festgelegt haben auf bestimmte Bilder: die Zettelchen und Fotos und Kerzen auf der einen, die trotzigen nationalen Gesten auf der anderen Seite. Dies ist eingeflossen in die Volksfotokultur, die dann aus dem Ereignis in New York (nicht aus dem Angriff auf Washington) hervorgegangen ist.
Von den vier fotografischen Essays, die der Franzose Touhami Ennadre unter dem Titel If you see something say something vorlegt, handelt der zweite von "New York Nine-Eleven", womit aber weniger dieser eine Tag gemeint ist, sondern eher das ganze dann folgende Desaster. Er klopft die Klischees ab, bis die Zeit stillsteht, so dass die Regung in den Gesichtern sich dagegen um so eindringlicher zeichnet, eine Regung kurz vor der Versteinerung.
Ennadre, ein Selfmademan der Fotografie, verwendet eine selbsterfundene Lichttechnik, um seine Figuren in Schwärzen zu tauchen - oder aus den Schwärzen heraus zu zeichnen. Er hat oberhalb und unterhalb seiner Mittelformatkamera eine Taschenlampe montiert. Die Wirkung ist die eines mobilen Studios; ein vom Klassischen ins Archaische zurückworfener Irving Penn.
Wie fotografische Meister vor ihm - Atget, Arbus, Christer Strömholm - hat auch Ennadre in New York seine besten Bilder nicht auf der Hauptachse des Geschehens gemacht, sondern an der Peripherie. In den "New York Nightclubs" fand er Paare in liebevoller Zuwendung, der Erschöpfung nah, die Maske des Wohlstands abgegeben an der Garderobe, die Schwelle zur Wollust überschreitend als shakespearehafte physiognomische Kolosse. Man fragt sich, wie der Fotograf mit seiner plumpen Apparatur so tief hineinschauen konnte ins Dunkel der Zweisamkeit.
Eine dritte Serie, "Under New York", könnte man auf den ersten Blick als exzentrische Modestrecke missverstehen, mit den Baseballcappies und schimmernden Daunenjacken, die Gesichter der Modelle verborgen. Es ist aber, wie die Summe der Bilder klarmacht, eine Studie von Obdachlosen, schlafend (oder was man so nennt). Die Wendung ins Mystische bekommt If you see something say something durch die letzte Serie unter dem Titel "Trance", begonnen 1993: Schwarze in religiösen Riten, Wasser und Schlamm; nicht zwingend Nordamerika. Dennoch wird hier klar, dass Ennadres Aufmerksamkeit jenseits weißer Kulturen geschult ist. Politisch gesehen, erscheint so der elfte September auch nicht als Katastrophe spezifisch angelsächsisch-protestantischer Zivilisation.
Ennadre wurde 1953 in Casablanca geboren und kam als Achtjähriger nach Paris. Im Vorwort von Nancy Spector erfahren wir nichts über die Arbeit des vorliegenden Buchs, allerdings manches über seine Vorgeschichte. Methodisch ist Spectors Essay ein Beleg dafür, dass mit der Lektüre von Susan Sontag und Roland Barthes die zeitgenössische Fotografie nicht zu fassen ist - ganz abgesehen von der nun gängigen Floskel des "Indexalischen", die man vom klugen Herrn Peirce geliehen und banalisiert hat: "Narben stehen für Wunden". Na, da wären wir gar nicht drauf gekommen.