Toni Morrison - „Rezitativ“: Die beiden Mädchen, mit denen sie es durchspielte

Eine jetzt erstmals übersetzte Erzählung der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison überzeugt mit einem Experiment.
Das Rezitativ tritt meistens in der Oper auf, die Passagen, in denen zwischen den kreiselnden Arien Handlungsrelevantes zur fast gesprochenen Sprache kommt. Mehr Text, weniger Kunst, es kann zwar eine ganze Weile dauern, aber es geht voran. Wie auch beim Rezitieren, dem künstlerischen Vortrag, der sich am ehesten der zweiten (veralteten englischen) Bedeutung nähert, die die Schriftstellerin Zadie Smith in ihrem Nachwort nennt: „der für eine beliebige Sprache typische Rhythmus oder Ton“.
Ein Rezitativ muss man hören, um es einzuschätzen, und auch beim Lesen von Toni Morrisons Erzählung „Rezitativ“ wäre das sicher ein Vorteil. Denkt man. Dann müsste es, denkt man, einfacher sein zu erraten, wer da spricht und wer die andere Frau ist. Weil die eine schwarz sein muss und die andere weiß, und Morrison nicht auflöst, wer wer ist. Es gibt keine einfachere Möglichkeit, ad absurdum zu führen, dass Gruppen von Menschen Merkmale, Eigenschaften, Gewohnheiten zugeschoben werden. Dass gut 40 Jahre nach dem Entstehen dieses Textes immer noch die Erwartung da ist, es müsse dahinterzukommen sein, dokumentiert, dass das Vorankommen sich jenseits der Kunst erst recht im Rahmen hält. Es kann eine ganze Weile dauern, und wir sind mittendrin.
Literaturnobelpreisträgerin Morrison (1931-2019) schrieb nur diese einzige Erzählung, das sei folgerichtig, betont Zadie Smith, „es gibt keinen rasch hingeworfenen Morrison-Text, keinen Lückenbüßerroman, kein Auf-der-Stelle-Treten“. 1983 (zehn Jahre vor dem Nobelpreis) erschien „Recitatif“ in einer Anthologie, jetzt ist sie erstmals ins Deutsche übersetzt worden. Tanja Handels wahrt das Geheimnis, das entspannte Umgangsdeutsch ist kaum flapsig und legt sich zeitlich nicht fest. Die schöne Wendung „Uns hatte man abserviert“ passt dazu in ihrer Lebendigkeit.
Roberta und Twyla – das ist die Erzählerin – lernen sich im Kinderheim kennen. Sie sind acht und keine Waisen mit lieben Eltern, die sich als Engel im Himmel tummeln, wie es hier sein sollte: „Uns hatte man abserviert.“ Robertas Mutter ist krank, Twylas Mutter tanzt gerne die ganze Nacht, sie informieren einander und verstehen sich gleich. Nicht in der ersten Sekunde, da erinnert sich Twyla, was ihre Mutter über Menschen mit Robertas Hautfarbe gesagt hat. „Also, sie roch wirklich komisch.“ In der zweiten Sekunde, auf der zweiten Seite des Buches hat sich das schon erledigt. Auch gibt es viel mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede, die größte Ähnlichkeit sind die Mütter, die sich ihrerseits am Besuchstag absolut nicht verstehen. Twylas Mutter ist unmöglich angezogen, aber immerhin hübsch, findet Twyla, Robertas Mutter trägt ein riesiges Kreuz und denkt nicht daran, Twylas Mutter die Hand zu geben. Es gibt immer wieder diesen Moment, in dem alles sich zu klären scheint. Aber es sind nur die eigenen Vorstellungen, die sich breit machen und nicht bestätigen lassen.
Das Buch
Toni Morrison: Rezitativ. A. d. Engl. v. Tanja Handels. Rowohlt, Hamburg 2023. 96 Seiten, 20 Euro.
Sie verliert keine Zeit
Eine straffe Geschichte – die Hälfte des schmalen Buches, mehr als die Hälfte besteht aus Zadie Smith’ Nachwort. Morrison verliert keine Zeit. Rezitativ, es geht voran. Nach der Zeit im Kinderheim verlieren sich die Kinder aus den Augen, um sich dann immer wieder einmal zu treffen. Es sind zum Teil peinliche Begegnungen, zum Teil gesprächige, die Zeiten ändern sich zudem. Eine poetische Beobachtung für die Ewigkeit haben Morrison, Twyla und Tanja Handels für uns, wenn sie in der aufkommenden Unruhe, den nahenden Rassenunruhen, an einen Vogel solchen Namens denken, „einen großen, krakeelenden Vogel aus dem Jahr 1 000 000 000 vor Christus. Der ständig mit den Flügeln schlug und krächzte“ („Unruhe“ ist mindestens so schön dafür wie das englische „strife“ im Original). Aber nicht einmal als Roberta dagegen demonstriert, dass ihr Sohn auf eine andere Schule soll – und Twyla das Problem überhaupt nicht versteht –, lässt sich sagen, ob Roberta eine schwarze oder weiße Bürgerrechtlerin und ob Twyla eine schwarze oder weiße Ignorantin ist.
In diese scheinbar schlichte, tatsächlich bedachtsam gebaute Konstellation baut Morrison noch einen Seitenstrang ein. Die beiden Frauen erinnern sich äußerst unterschiedlich an eine stumme, allseits schikanierte und verspottete Frau, die im Kinderheim als Hilfskraft tätig war. Das betrifft nicht nur Geschichten, in denen vielleicht auch Roberta und Twyla keine gute Figur machen. Es betrifft auch Maggie selbst. War sie schwarz, war sie weiß? Twyla ist sich so sicher, aber nicht einmal bei dieser allgemeinen Ansichten zufolge so klaren Frage gibt es Gewissheit. Dann aber ist es ja wirklich irre, noch über Hautfarben zu sprechen. In der Tat, sagt Toni Morrison.