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Herr der schlimmsten Kinderbücher

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Von: Harry Nutt

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Tomi Ungerer
Tomi Ungerer bei seiner Schau „Eklips“, 2010 in der Kunsthalle Würth, Schwäbisch Hall. © dpa

Tomi Ungerer brüskierte und faszinierte sein Publikum mit frechen, bösen, ironischen Arbeiten.

Für einen Heranwachsenden war es Anfang der 70er Jahre ein Schock und eine Offenbarung zugleich, als hierzulande über den links-subversiven Zweitausendeins Verlag der Band „Fornicon“ von Tomi Ungerer vertrieben wurde. Er enthielt drastisch sexualisierte Darstellungen, auf die Spitze getriebene Fantasien über Sexspielzeuge und seltsam anmutende Befriedigungsmaschinen.

Das war verbotenes Zeug, das erkannten wir sofort, aber es blieb uns nicht verborgen, dass die zeichnerische Umsetzung eine spielerische Distanzierung enthielt. Ungerer bediente die sexuelle Gier weniger als dass er sich über sie lustig machte. Er begab sich damit in die Tradition des amerikanischen Underground-Comics eines Robert Crumb („Fritz The Cat“), und als Pennäler stießen wir durch diese frühe Begegnung mit dem zeichnerischen Werk Ungerers auf die im Grunde recht einfache Unterscheidung von Pornografie und Kunst. Was immer er später als Zeichner, Illustrator und Künstler in Angriff nahm: sein Blick auf die Welt und die bisweilen obsessive Auseinandersetzung der Menschen mit ihr war bereits getränkt in die Tinktur eines ironischen Gegengifts.

Mit nur 60 Dollar in die USA

Das war es für Ungerer keineswegs nur lustig. Als „Fornicon“ 1969 erschien, wurde der Band in Großbritannien verboten, und in den USA, wo er lebte, eckte er in einer weitgehend prüden Gesellschaft immer wieder an, wohl auch, weil man sich von Ungerer – zu Recht – bloßgestellt fühlte.

Jean-Thomas (Tomi) Ungerer wurde 1931 in Strasbourg als Sohn einer Schweizer Uhrmacherfamilie geboren und wuchs nach dem Tod seines Vaters wohlbehütet unter der Obhut seiner Mutter im elsässischen Colmar auf. Während der deutschen Besatzung war es ihm plötzlich untersagt worden, Französisch und Elsässisch zu sprechen, eine absurde machtpolitische Demonstration, die wohl sehr früh auch seinen Freiheitsdrang bekräftigte.

Mit nur 60 Dollar in der Hand brach er 1956 in die USA auf, musste aber schon bald nach seiner Ankunft in der Neuen Welt wegen einer Rippenfellentzündung stationär notbehandelt werden. Ungerer schlug sich durch nach New York, und aufgrund seiner sprachlichen Vielseitigkeit und seiner auffälligen zeichnerischen Talente kam er bald in Kontakt mit der künstlerischen Boheme. Ungerer zeichnete Filmplakate für Stanley Kubrick und Otto Preminger, und zu seinen Freunden zählten Schriftsteller wie Philip Roth, Tom Wolfe und Saul Bellow. Wegen seiner drastischen Bildsprache wurde Ungerer zeitweilig vom FBI beobachtet.

Als Ungerer die USA zunächst in Richtung Kanada Anfang der 70er Jahre verließ, hatte er längst damit begonnen, sich als Zeichner von Kinderbüchern einen Namen zu machen, in denen er seine stilistische Direktheit jedoch beibehielt. Sein Buch „Kein Kuss für Mutter“ erhielt in den USA den Preis für das schlimmste Kinderbuch des Jahres, weil darin die Figur Toby mit seinem Freund Zigarre raucht und beim Frühstück mit seinen Eltern eine Flasche Schnaps auf dem Tisch steht. Ungerer verstand sich eben nicht nur als liberalerer Aufklärer, er war auch ein radikaler Vertreter eines karikierenden Realismus. Davon zeugen mehr 40 000 Zeichnungen, über 140 Bücher und Hunderte Ausstellungen in aller Welt.

Am Samstagabend ist Tomi Ungerer im irischen Cork im Alter von 87 Jahren gestorben.

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