Tief in den Stollen der Erinnerung

Zum 90. Geburtstag das Autors Edgar Hilsenrath, der mit Kraft und Glück die Shoa überlebte.
Von Ulrich Seidler
Der am 2. April vor 90 Jahren in Leipzig geborene Schriftsteller Edgar Hilsenrath hat mit Glück und Kraft die Shoa überlebt, sein Werk besteht in der mutigen, durchaus lustvollen Auseinandersetzung mit dem selbst erlebten Grauen und der Finsternis. Es ist ein vielgestaltiges, wuchtiges, sattes, unverdautes Zeugnis über etwas, zu dem man herkömmlicherweise als Nachgeborener nur in ordentlich-unfassbaren Tatsachenportionen Zugang bekommt.
Die von antisemitischen Mitschülern und Lehrern vergiftete Kindheit verlebte Edgar Hilsenrath in Halle an der Saale, mit zwölf Jahren sah er seinen Vater, einen jüdischen Kaufmann, der sich nach Frankreich absetzte, für viele Jahre zum letzten Mal. Seine Mutter, sein Bruder und er zogen nach der „Reichskristallnacht“ zu den Großeltern ins rumänische Sereth, dort verbrachte Edgar Hilsenrath die glücklichste Zeit seines Lebens, wie er vor Jahren im Interview erzählte – ein paar schöne Monate waren ihm in dem von jüdischem Leben geprägten Städtchen beschieden.
Dann aber, Hilsenrath war 15, wurde die Familie ins Ghetto verschleppt, wo er Hunger, Krankheit, Tod, Angst, Kälte, Demütigung und auch quälende Langeweile erlebte. Als das Lager im März 1944 von der Roten Armee befreit wurde, war er 18, ging allein nach Palästina, lebte von Gelegenheitsjobs. 1947 gab es ein Wiedersehen mit der Familie in Lyon, doch sein Leidensweg war nicht zu Ende. Über die Gefangenschaft wurde nicht gesprochen, Edgar sollte das Kürschnerhandwerk lernen, begab sich wegen Depressionen in Behandlung, man verabreichte ihm Elektroschocks, die ihm, wie er schrieb, zwar wohltaten, aber nicht halfen.
Als die Schreibblockade fiel
Losgeworden ist er die Depressionen erst in den 1950ern, in einem Bistro in New York, als seine Schreibblockade fiel. Er hatte „Arc de Triomphe“ von Erich Maria Remarque gelesen, sich einen Rotwein und einen Stapel Schreibpapier bestellt und die ersten Seiten seines ersten Romans „Nacht“ geschrieben. Es ist die fiktionalisierte, aber ungeschönte Schilderung der Welt, die er im Ghetto erlebt hatte. Mit einem schwer erträglichen, literarisch wenig ausgefeilten Realismus wird der Leser mit der Schlechtigkeit von Menschen konfrontiert, die Opfer waren. Da werden Goldzähne aus den Kiefern noch warmer Leichen gebrochen, Sterbenden die Schuhe, einem Baby der Kohlrabistrunk-Schnuller gestohlen, Frauen misshandelt – und zwar von den Mitgefangenen. Auf die Gleichzeitigkeit von Geilheit und Todesangst, die in dem Buch nebeneinanderstehen, angesprochen, reagierte Hilsenrath in besagtem Gespräch mit seltsamer, beredter Schelmischkeit: „Der Hauptheld ist doch impotent.“
Das Buch fand lange keinen Verlag, in Deutschland kam es in kleiner Auflage heraus und fiel unter den Tisch. Nach Hilsenraths Erfolg mit der Verwechslungsgroteske „Der Nazi und der Friseur“, die in Amerika herauskam und zwei Millionen Mal verkauft wurde, bevor sich – nach 60 Absagen – ein kleiner deutscher Verlag fand, wurde auch „Nacht“ noch einmal veröffentlicht.
„So geht das nicht“, urteilte der Literaturkritiker Fritz Raddatz 1978 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ über „Nacht“, nachdem Hilsenrath drei Jahre zuvor der Sprache wegen nach Deutschland zurückgekehrt war. „Noch nie habe ich ein so unangemessenes Buch gelesen.“ In dem Verriss legt Raddatz Wert auf die Unterscheidung zwischen dem „erbarmungslosen Schicksal“ Hilsenraths und dem „erbärmlichen Buch“, um Letzteres zu vernichten, wissend, dass bei Hilsenrath Leben und Literatur unlösbar zusammenhängen. Eine Qual ist das Buch in der Tat, jedoch viel mehr in seinem absichtsvoll obszönen Realismus als in seiner sprachlichen Unzulänglichkeit, aber es ist auch ein schweißtreibendes literarisches Pionierwerk. Hilsenrath hat sich mit einer Funzel in die Stollen seiner Erinnerungen gewagt.
Mut hat er auch bewiesen, als er 1989 den Völkermord an den Armeniern literarisch fasste und – den Leugnern den Wind aus den Segeln nehmend – als ein „Märchen vom letzten Gedanken“ erzählte, in aller befremdlichen Saftigkeit, Farbigkeit und geradezu jubelnden sprachlichen Ornamentalität. Es ist die mit Lust verbundene Scham, ein zum Bösen fähiger Mensch zu sein, die einem beim Lesen die Röte ins Gesicht steigen lässt. Wer Hilsenrath liest, riskiert verletzte Tabus mit den dazugehörigen Katergefühlen.
Wie es Edgar Hilsenrath heute geht, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Von seinem vorletzten Verleger trennte er sich nach einem Rechtsstreit, die öffentlichen Auftritte sind marginal, die Lizenz-Geschäfte und den Vertrieb der Gesamtausgabe hat ein Bevollmächtigter übernommen. Auf Anfragen reagiert dieser nicht. So grüßen wir und gratulieren auf diesem Weg.