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Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“

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Thomas Melle, hier im Literaturhaus Frankfurt.
Thomas Melle, hier im Literaturhaus Frankfurt. © dpa

Thomas Melle schreibt ein ganz und gar außergewöhnliches Buch: In „Die Welt im Rücken“ berichtet er autobiografisch über seine manisch-depressive Störung.

Von Sabine Vogel

Das ist kein Roman, das ist der Hammer. Thomas Melle berichtet in seinem soeben erschienenen Buch autobiografisch über seine manisch-depressive Erkrankung. Die Geschichte seiner bipolaren Störung, ein euphemistischer, und, wie er sagt, viel zu harmloser Begriff für das Desaster, das diese Krankheit anrichtet, ist schonungslos ehrlich und schockierend brutal. Zugleich ist sie „irre“ komisch. „Existentieller Slapstick“, nennt es Melle in einem Interview. Und da seine manischen Phasen ihn durch die Berliner Clubs, Kneipen, Partys und Konzerthallen treiben, gelingt Melle wie nebenbei ein Stimmungsbild der überhitzten Berliner Popkulturszene.

„Die Welt im Rücken“ ist Melles Versuch, die mörderische Krankheit zu bannen. Das Schreiben ist ihm der Schutzanzug, mit der er das kontaminierte Terrain seiner Leidensgeschichte betritt. Dass daraus grandiose Literatur geworden ist, liegt daran, wie Melle das in Sprache fasst. Die literarische Form wird dem Inhalt auf nahezu kongeniale Weise gerecht. Melles irrlichternde Präzision der Beschreibung eines von ihm abgespaltenen Selbst entspricht der hypergeschärften Wahrnehmung der Manie, die bei ihm zusätzlich mit einer paranoiden Psychose einher geht. Er betrachtet dieses Ich, das er ist und doch nicht ist, dessen wahnwitziges Verhalten ihm im Nachhinein zutiefst fremd, beschämend und gruselig erscheint, wie eine „Figur aus einer abgedrehten TV-Serie“.

Es beginnt mit einem Gefühlsüberschuss. Der Auslöser seines ersten manischen Schubs ist das Internet. Es ist die Falltür in die Krankheit. Aus schierem Spaß und Übermut entert Melle 1999 mit seinem Schulfreund Lukas die Seiten eines vor sich hindämmernden literarischen Portals. Sie verfassen darin Texte im Namen einiger Schriftsteller wie Rainald Goetz, Judith Hermann, Christian Kracht und fingieren einen regen Blogverkehr. Das beschert dem da selbst noch ziemlich unbekannten Autor eine euphorisierende Aufmerksamkeit.

Plötzlich ist er da, er spielt eine Rolle in diesem verführerisch glühenden und wummernden Berliner Pop-Kosmos zwischen Berghain und Volksbühnen-Salon. Wie ein Verrückter, nein, er ist ein Verrückter, ist er unterwegs. Alle, so glaubt er, kennen ihn und meinen ihn. Der Ausbruch seines vermutlich schon in ihm lauernden Wahnsystems – „die Neurotransmitter scharren mit den Hufen“ – wird durch das plötzliche Wahrgenommensein entzündet, bald befeuert „alles, alles, alles“ seine paranoid psychotische Wahrnehmung. Die Welt ist ein einziger Sender, er der einzige Adressat, der Mittelpunkt eines nur für ihn existierenden Referenzsystems. Die Sinneseindrücke prasseln von allen Seiten auf ihn ein, die Botenstoffe rüsten sich zum hysterischen Aufstand. „Der Gehirnstoffwechsel kocht über, der Mensch rastet aus.“

Popsongs funktionieren wie Trigger, jedes „du“ meint Melle, die Einstürzenden Neubauten rufen anonym an und bauen ein „Hallo“ des Stimmbrüchigen Melle in ihr Lied „Ich bin’s“ ein, David Bowie zitiert seinen Namen vorausahnend in „Space Oddity“ 1969, noch vor seiner Geburt 1975, als Kind einer kaputten Familie in Bonn. Madonna liest er auf der Oranienstraße auf, sie kommt umstandslos mit ihm in seine Bude beim Kottbusser Tor, sie haben Sex, er sieht ihre Falten, das labberige Fleisch. Sein Vater ist Sting, auf dem Klo vom Berghain sitzt Picasso, den Melle eh nie leiden konnte, er schüttet ihm Rotwein in den Schoß.

Die Millenniumshysterie ist wie gemacht für ihn, er steigert sich in den klassisch klinischen „Messias-Wahn“. Hitler irrte nur darin, dass er nicht erkannte, dass er in Wirklichkeit Thomas Melle ist. Auch 9/11 geht auf Melles Konto, das ist schon im nächsten Krankheitsschub.

Das paranoide Setting ist immer sogleich wieder installiert. Alle Eindrücke dringen ungefiltert ein, und richten ein explosives Wimmelchaos in seinem Kopf und Gemüt an. Er kann kaum mehr schlafen, trinkt exzessiv, ist überdreht, spielt sich auf, nervt. Seine Freunde sind alarmiert, schicken ihn in die Psychiatrie, Melle entlässt sich nach wenigen Tagen wieder, bar jeglicher Krankheitseinsicht. Er erkennt, dass etwas nicht stimmt: Mit der Welt, nicht etwa mit ihm selbst. Wenn er sich überhaupt zum Bleiben in der Klinik überreden lässt, betrachtet er es als „Recherche“. Er hat „viel Spaß mit diesen entwurzelten Verrückten“ bei einem Aufenthalt in der Geschlossenen vom Urban Krankenhaus.

Melles durch Psychopharmaka zusammengehaltene Schutzanzug ist dünn genug, um die erinnerten Bilder und Szenarien des Wahns mit kristalliner Schärfe in das Laboratorium gelangen zu lassen, in dem ihre literarische Transformation bewerkstelligt wird. Dort, in diesem Maschinenraum der Dichtung, hat der einst übereifrige Literaturwissenschaftsstudent und ehemalige Eliteschüler aus der Arbeiterschicht längst Bibliotheken des Wissens gehortet. Sein Chirurgenbesteck der Sprachsezierung ist poliert und er nimmt seinen Platz im „Vibrieren der Semantik“ ein.

Blendende Gegenwartsanalysen

Zwischen Monstern wie „Betreuungsverfahrensbescheiden“ und „Schweigepflichtentbindungserklärungen“ stehen hellsichtige, ja blendende Gegenwartsanalysen. Da verkommt „die bescheidwisserische Attitüde des Pollesch-Sprech im hohlen Einverständnis mit den Umständen zum Smart-Sprech“. Und Foucault steht als Wirt im Prater. Ja, die Helden seines Literaturuniversums, die ihn so direkt ansprechen, stehen für ihn sogar von den Toten auf. Thomas Bernhard isst einen Burger in Wuppertal, er schmeckt ihm nicht.

In den zwangsläufig folgenden Depressionen, mindestens ebenso lang wie die manischen Phasen, bei Melles drittem Schub 2010 länger als ein Jahr, werden die Tage trübe wie Milchglas. Nach der medikamentösen Sedierung vegetiert er zwischen Konfitüre, Pillen und Kippen. Zu den Schulden, die er angehäuft hat – ein Motiv seines zweiten Roman, „3000 Euro“ – kommt die Schuld und die Scham darüber, was sein irres Ich, der „hirnverseuchte Clown“, angerichtet hat. „Ein Schub mit Internetzugang, und du hast bei manchen Leuten für den Rest deines Lebens verschissen.“

Seit dem dritten Schub nimmt er regelmäßig Medikamente, die seine emotionalen Ausschläge stabilisieren. Von Lithium, einem Salz, das in der Natur vorkommt, weshalb er, als Relikt des alten Paranoia-Schemas, nicht befürchten musste, dass damit nur ein Konzern das dicke Geld verdient, bekommt er Akne. Nicht besonders hilfreich, wenn man sich ohnehin wie ein Aussätziger fühlt. Inzwischen nimmt er ein anderes Medikament, dass die Ausschläge dämpft zwischen Himmelhoch-jauchzend und Zu-Tode-betrübt. Gegen Rückfälle gibt es keine chemische oder therapeutische Versicherung. Wenn er wieder einen manischen Anfall bekommen sollte, dann, so wünscht er sich, möge ihm jemand sein Buch in die Hand drücken.

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