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Terrorist? Widerstandskämpfer?

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Von: Sylvia Staude

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Im alten Kalkutta.
Im alten Kalkutta. © Imago

"Ein angesehener Mann": Abir Mukherjees lehrreicher wie unterhaltsamer Kriminalroman aus dem kolonialen Indien.

Man muss Kriminalromane gewiss nicht lesen, um etwas über ferne Länder und ferne Zeiten zu erfahren – aber man kann. Vorausgesetzt, man hat nicht das Gefühl, mit einer folkloristischen Geschichte jenseits aller Glaubwürdigkeit über den Tisch gezogen zu werden. Außerdem vorausgesetzt, der Stil ist nicht oberlehrerhaft.

Ein Brite mit indischen Wurzeln namens Abir Mukherjee – seine Eltern zogen in den sechziger Jahren aus Kalkutta nach Glasgow – hat seinen Debütroman ins Kalkutta des Jahres 1919 verlegt, in ein noch unter kolonialer Herrschaft stehendes Indien also. Aber die Macht beginnt den Kolonisatoren bereits aus der Hand zu gleiten. Im Jahr 1919 fürchtet man – nicht ganz zu Unrecht – Terroranschläge oder sogar einen Aufstand.

„Ein angesehener Mann“ („A Rising Man“, 2016), in diesen Tagen auf Deutsch erschienen, erzählt vom gewaltsamen Widerstand und von den neuen, gewaltfreien Ideen eines Rechtsanwalts namens Gandhi. Das Buch erzählt vom alltäglichen Rassismus und den vielerlei Vorurteilen der weißen britischen Herren (Frauen spielen keine entscheidende Rolle), die ihre Kultur allemal als die überlegene betrachten.

Der alltägliche Rassismus 

Und am Rande erzählt es sogar von der Unterdrückung Irlands im Vergleich zu der Indiens. „Ein angesehener Mann“ ist damit ein im besten Sinn lehrreicher Kriminalroman, dessen Fiktionen und Figuren genauso interessieren wie der reale und, so der Eindruck, sorgsam recherchierte geschichtliche Hintergrund.

Der neue Polizei-Captain in Kalkutta – es ist immer gut, als Erzähler einen Neuling zu haben, die Leserin kann sich ihm gleichsam anschließen – heißt Sam Wyndham, hat in London bei Scotland Yard gearbeitet und im Ersten Weltkrieg gekämpft, der damals noch Großer Krieg genannt wurde. Man versteht, dass der Captain eigentlich nicht mehr viel mit Waffen zu tun haben will, dass ihn Alpträume plagen, dass er darüber drogensüchtig geworden ist. Er schämt sich, nachts immer wieder aus seinem Zimmer in einem ehrenwerten Haus zu schleichen – andererseits ist es so leicht, in Kalkutta an Stoff zu kommen, jeder Rikscha-Fahrer weiß, wo die Opiumhöhlen sind.

Wyndham an die Seite stellt Mukherjee einen Einheimischen, auch das ist bewährte Kriminalroman-Taktik. Sergeant Surendranath Banerjee – die Briten können den Vornamen nicht aussprechen und nennen ihn „Surrender-not“ (Ergib-dich-nicht) – fühlt sich einerseits als Verräter seines Volkes (er steht im Dienst der Kolonialherren); er hat aber in England studiert und möchte auch Verantwortung übernehmen, sobald Indien sich selbst verwalten darf.

Es braucht den Mord an einem weißen Mann (der zudem ein wichtiger weißer Mann war), um nun die Polizeimaschinerie volle Kraft anfahren zu lassen. Weder Wyndham noch Banerjee machen sich Illusionen, dass ein toter Einheimischer ähnliche Aufmerksamkeit erfahren würde. Von ihrem Vorgesetzten erhalten sie immerhin Unterstützung auch noch, als Captain Wyndham Zweifel äußert, dass ein indischer Terrorist (für die einen) beziehungsweise Widerstandskämpfer (für die anderen) den „angesehenen Mann“ ermordet hat. Die Militärpolizei hat den Verdächtigen freilich schon eingesperrt und zum Täter erklärt. Er wartet auf seinen „Prozess“ und seine Hinrichtung.

Abir Mukherjee hat diesen Krimi fein ausbalanciert zwischen Faktenvermittlung und Action (oh ja, es gibt auch ein wenig Action), zwischen relativ komplexem Gesellschaftsbild und fiktiver Handlung. Er macht Menschen und Orte plastisch. Und die kleinen Bären, die er einem hier und da sicher aufbindet, sie müssen in einem Roman, der auch unterhaltend sein will, einfach sein.

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