- 0 Kommentare
- Weitere
Tag- und Nachtträume
Drei Autoren versuchen auf unterschiedliche Weise, die Kinderseele zu ergründen
Von FRANCA KLEE
Kindergeschichten nennt Sams-Vater Paul Maar im Untertitel seinen Erzählband Große Schwester, fremder Bruder und meint aus dem Leben von Kindern gegriffene Geschichten. In der einen geht es um einen wegen Scheidung verlorenen Vater, in der anderen um die Furcht, dass ein Vater verschwinden könnte, weil er sich eine andere Frau gesucht hat. Aber es gibt auch weniger Schmerzliches und sogar Lustiges: Eine Geschichte handelt zum Beispiel von der komplizierten Beschaffung eines Geburtstagsgeschenks für eine Zwillingsschwester in ein und demselben Geschäft, bei ein und derselben Verkäuferin - zeitverschoben. Und um Trödeln, Verliebtsein, Kranksein, schlechte und gute Träume dreht sich die Handlung in weiteren Geschichten.
Alles, was einem Kind so passieren kann, verpackt Paul Maar in abgeschlossene Geschichten, die aber durchaus eine Fortsetzung finden in diesem Buch und deren Figuren auf wunderbare Weise alle miteinander zu tun haben.
Kate Banks' Vogelkind und Eva Polaks Die Pfeffermuschel hätten auch, trotz aller Unterschiede, in dieses Buch gepasst. Eva Polaks Hauptfigur Pauline, die eine Reise nach Amrum ins Schullandheim macht, drückt neben ihrem eigenen Problem, "die Neue" in ihrer Klasse zu sein, die Sorge um ihre Mutter, die sich gerade in einer Klinik befindet, um ihr Alkoholproblem in den Griff zu kriegen.
Kate Banks' Held Dillon, der zu seinem großen Verdruss mit Nachnamen genauso heißt wie mit Vornamen, erfährt an seinem zehnten Geburtstag, wie es zu dieser sonderbaren Namensgebung gekommen ist. Während die eine Autorin eine ansprechende Geschichte erzählt, die durchaus eine Problematik enthält, aber kaum unter die Haut geht, scheint es der anderen auf schlichte, poetische Weise zu gelingen, beinahe bis auf den Grund einer kindlichen Seele zu schauen.
Kate Banks hat mit ihrem ersten Kinderroman - bisher schrieb sie die Texte für mehrfach ausgezeichnete Bilderbücher - ihre Empathie für kindliches Denken und Fühlen bewiesen. Dillon erhält auf die Frage nach seinem merkwürdigen Namen eine Antwort, auf die er überhaupt nicht gefasst ist. Niemals hätte er geglaubt, dass seine geliebte Familie gar nicht seine richtige Familie ist. Er wurde adoptiert. Der schmerzhafte Prozess der Verarbeitung dieser Neuigkeit vollzieht sich während der Sommerferien, die die Dillons in einem kleinen Haus an einem See verbringen. Der Junge fährt Tag für Tag mit seinem Boot auf eine kleine Insel und verbringt die meiste Zeit mit der Beobachtung eines Eistauchers, dem er sich auf ganz besondere Weise verbunden fühlt. Dillon empfindet sich in dieser Zeit manchmal beinahe selbst als Vogel. Aber der Eistaucher sucht sich bald eine Partnerin und brütet mit ihr zusammen ein Vogelkind aus, dem von da an die ungeteilte Aufmerksamkeit des Pärchens gilt, bis - aber das wäre nun doch zu viel verraten.
Im traurigen, aber glücklich endenden Schicksal des kleinen Eistauchers spiegelt sich Dillons eigene Geschichte. Indem sie seine kindliche Reflexion der Erlebnisse einfühlsam erzählt, gerät der Autorin ein kleiner Held, der als Figur der Kinderliteratur Beachtung verdient.