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Surreale Schatten

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Von: Norbert Mappes-Niediek

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Kinderspiele funktionieren nur bei Kindern, finden die Erwachsenen, die früher von Kastanienblatt zu Kastanienblatt gehüpft sind.
Kinderspiele funktionieren nur bei Kindern, finden die Erwachsenen, die früher von Kastanienblatt zu Kastanienblatt gehüpft sind. © REUTERS

Varujan Vosganians grundpessimistisches Umbruch-Epos „Das Spiel der hundert Blätter“ erzählt vom Ende des rumänischen Sozialismus.

Drei Männer, gemeinsam aufgewachsen im rumänischen Sozialismus, treffen sich nach zwanzig Jahren wieder in ihrer Heimatstadt. Sie erinnern sich an ein Spiel, das sie als Kinder erfunden haben: Bei jedem Schritt auf dem Schulweg mussten sie den Fuß auf ein herabgefallenes Kastanienblatt setzen.

Lag gerade keines vor ihren Füßen, durften sie eines von abgezählten hundert Blättern aus ihrem Ranzen vor sich hinlegen. Wer keine Blätter mehr hatte, schied aus. Nachspielen lässt das Spiel sich nicht mehr, finden sie, inzwischen jenseits der Fünfzig, heraus. Die Ersatzblätter, Metapher für die Ressourcen im Lebenskampf, sind alle verbraucht.

Varujan Vosganian hat vor sieben Jahren schon mit dem Epos seines Volkes, des armenischen, ein glänzendes Debüt gefeiert („Buch des Flüsterns“). Jetzt liegt sein zweiter Roman auf Deutsch vor, wiederum von Ernest Wichner vortrefflich übertragen. Es ist dem Anspruch nach das Epos einer, seiner, Generation, nicht allein von Rumänen, sondern aller derer, die im Osten Europas als Erwachsene den Systembruch um das Jahr 1990 erlebt haben.

„Gleichzeitig die Schwelle zwischen zwei Jahrhunderten, zwei Jahrtausenden und zwei Lebensweisen zu überschreiten, ist keine Kleinigkeit“, bilanziert am Ende einer. „Keiner anderen Generation der Menschheitsgeschichte ist jemals eine solche Gelegenheit geboten worden.“

Ob die „Gelegenheit“ ein Glück oder ein Unglück war, bleibt unbeantwortet. Aus Prinzip: Vosganian, der ein bekannter Politiker ist und zweimal Finanzminister war, denkt konservativ und hat Verheißungen nicht im Programm. Die pessimistische Haltung ist von Erfahrungen seiner Generation reich gedeckt.

„Anstelle einer strahlenden Zukunft, die niemals eintrifft, hätte ich lieber eine Vergangenheit, an der ich mich erfreuen könnte“, lässt Vosganian einen seiner Protagonisten sagen. Die Revolution, wie der Sturz Ceausescus hier genannt wird, war nicht der Aufbruch in eine bessere Welt. Sie bricht die Geschichte nicht, sie spiegelt sie nur: Sie zeigt nichts Neues, nur alles seitenverkehrt.

Die drei Freunde Jenica, Tili, Maca und ein vierter, Luca, der noch im Sozialismus beim Versuch der Republikflucht erschossen wurde, sind – in der Heimatstadt ihres Autors – auf dasselbe Gymnasium gegangen, waren Werksingenieure in einer untergegangenen Fabrik und hatten, anders als übrigens ihr realer Autor, ihre Zukunft konsumiert, als die Revolution kam.

Eingebettet in die Geschichte der vier Männer finden sich poetische Gleichnisse, die künftigen Romanisten noch etlichen Stoff zum Entschlüsseln geben. Ein Maler in einer zentralen Geschichte etwa hat die Gabe, Menschen so zu malen, wie sie zum Zeitpunkt ihres Todes aussehen werden – ein Plot wie von Oscar Wilde, nur nicht so locker erzählt. Nicht nur einmal kippt die Erzählung ins Surreale, und die Bilder überlagern sich, bis nichts mehr zu erkennen ist.

Leichte Kost ist es nicht, was Vosganian seinen Generationsgenossen vorsetzt. Die gedankenreichen, mal fantastischen, mal auch recht ausgeklügelten Parabeln handeln von den Schatten der Vergangenheit und von den Namen, die den Menschen und den Dingen eigentlich angehören – ein uraltes Thema des orthodoxen Denkens.

Alle drei Helden, zusammen so etwas wie ein Alter Ego des zurückgenommenen Erzählers, wissen auch sonst viel Kluges zu sagen: über den Unterschied von Verzeihen und Vergessen, den Tod, Vergangenheit und Zukunft. Alle Klugheit hilft ihnen aber nicht. Die Macht und den Erfolg haben Gestalten, die „wie Schimmelpilz“ aus dem Nichts gekommen sind. Ihre hundert Blätter haben sie lange konsumiert, und neue wollen von den altersschwachen Kastanien nur noch wenige fallen.

Rache für ihren getöteten Luca hilft den übriggebliebenen drei Freunden nicht. Für das Durchgemachte hält nichts sie schadlos. Den Spitzel, der ihren Freund verraten hat und den die drei jagen, gab es am Ende gar nicht. „Es schien uns bloß so, damit wir glaubten, wir könnten mit der Vergangenheit brechen.“

Kaum macht uns der Autor glauben, wir könnten eine politische Lehre ziehen, entgleitet es ins Philosophische – ganz ähnlich, wie es Gottfried Benn und einige konservative Autoren mit der Bewältigungsliteratur der fünfziger Jahre haben geschehen lassen. Eine Generation später war auf einmal wieder alles viel einfacher.

Varujan Vosganian: Das Spiel der hundert Blätter. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 223 Seiten, 20 Euro.

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