Sunjeev Sahota: „Das Porzellanzimmer“ – Beischlaf nur im Dunkeln

Sunjeev Sahota erzählt in „Das Porzellanzimmer“ über Irrungen und Wirrungen in einer arrangierten Ehe – und entwirft ein eindrucksvolles Bild vom Leben im Punjab der 20er Jahre.
Aus dem Wikipedia-Eintrag über Sunjeev Sahota ist zu erfahren, dass er vor seinem 18. Lebensjahr keinen einzigen Roman gelesen hatte. Bei ihm zu Hause sei das halt nicht üblich gewesen, sagte er in einem Interview. Sein Working-Class-Background habe ihn im übrigen wohl mehr geprägt als die Tatsache, dass er Kind einer Einwandererfamilie sei.
Dass es aber für ein Einwandererkind nicht immer leicht war, in einer proletarisch geprägten englischen Kleinstadt aufzuwachsen, ist eine Erfahrung, die der Autor, Jahrgang 1981, mit dem Protagonisten von „Das Porzellanzimmer“ teilt – dem ersten seiner bisher drei Romane, der ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist eine in Perspektive und Handlung mehrschichtige Erzählung, deren schlichte Raffinesse gar nicht auffällt, da nichts in diesem Roman je die Aufmerksamkeit auf die Perfektion seiner äußeren Form lenkt. Beim Lesen wirkt es vielmehr so, als sei der Vorgang des Erzählens die leichteste Übung der Welt.
Inspiriert von Familienlegenden über das Leben seiner Urgroßmutter, die als junges Mädchen im Punjab an einen Mann verheiratet wurde, den sie nicht kannte, erzählt Sunjeev Sahota in diesem Roman das Leben einer jungen Frau mit ähnlichem Schicksal: Die 15-jährige Mehar wird die Ehefrau eines Mannes, mit dem sie schon im Alter von fünf Jahren verlobt worden war. Sie kommt auf einen Hof, auf dem eine Witwe mit drei Söhnen lebt. Alle Söhne haben gleichzeitig geheiratet, und so hat Mehar immerhin zwei Gefährtinnen.
Die Mädchen leben zusammen in einem Raum, der nach den sechs dort aufbewahrten Tellern das „Porzellanzimmer“ genannt wird. Ein dunkles Kämmerlein am Rande des Hofs dient als Beischlafgemach, in dem die Ehepaare, nach Anordnung der Schwiegermutter, nachts abwechselnd zusammenkommen. Sonst sind die Jungvermählten nie paarweise allein. Wer mit welchem Sohn verheiratet ist, bleibt den Ehefrauen daher lange unklar, denn im Dunkeln sind keine Details auszumachen, und gesprochen wird kaum. So ist es kein Wunder, dass Mehar falsche Schlüsse zieht und einen anderen als den ihr Angetrauten für ihren Gatten hält. Es ist ein Irrtum mit Folgen.
Unterbrochen wird Mehars Geschichte, die in den 20er Jahren spielt, durch Passagen von Ereignissen, die etwa 70 Jahre später stattfinden, allerdings in der Rückschau erzählt, denn das erzählende Ich ist nun in den mittleren Jahren. Ein 18-Jähriger, in England geboren und aufgewachsen, wird zu seinem Onkel nach Indien geschickt, um von der Drogensucht loszukommen.
Das Buch
Sunjeev Sahota: Das Porzellanzimmer. Roman. A. d. Engl. v. Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Hanser, München 2023. 240 S., 23 Euro.
Nur wenig älter als seine Urgroßmutter zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit, zieht er sich, als es im Haus des Onkels zu Konflikten kommt, auf die verlassene Farm der Familie zurück. In der Einsamkeit gelingt es ihm nach und nach, den Körper an ein Leben ohne Drogen zu gewöhnen und den Kopf von Gedanken an seine oft unglückliche. von Alltagsrassismus geprägte Kindheit in der englischen Provinz zu befreien. Außerdem freundet er sich mit einer jungen Ärztin und einem Lehrer aus dem Dorf an – freie Geister, deren Lebensentwürfe nicht in die traditionell geprägten sozialen Strukturen der ländlichen Umgebung passen.
Der junge Mann weiß wenig vom Leben seiner Urgroßmutter; ihre Geschichte läuft eigenständig neben seiner eigenen her, wie aus einer anderen, höheren Erzählinstanz gespeist. Und doch scheinen die Schicksale aller Figuren des Romans auf geheimnisvolle Art verbunden. So realisiert der junge Mann nach und nach, dass letztlich alle Menschen, wenngleich auf unterschiedliche Art, Gefangene gesellschaftlicher Erwartungen sind. Seine Urgroßmutter aber hatte so wenig in das Leben gepasst, das für sie vorgesehen war, dass sie eine Zeitlang gar als Gefangene im Haus ihres Mannes gehalten wurde.
Diese Phase in Mehars Leben wird nur sparsam angedeutet. Der Roman konzentriert sich auf die Irrungen und Wirrungen, die vorangingen, und erzählt vom Leben der blutjungen Ehefrau im Punjab der 20er Jahre mit einem solchen Detailreichtum, mit solcher Farbigkeit und Empathie, dass es staunen macht, wie ganz und gar der Autor in die Haut dieses Mädchens schlüpfen konnte, das gleichsam unabsichtlich gegen sein Los rebelliert.
Fontanes Effi Briest als ferne Schicksalsgenossin Mehars könnte da in den Sinn kommen; aber Fontane porträtierte in der jungen Effi und ihrer unglücklichen standesgemäßen Vernunftehe die sozialen Mechanismen seiner eigenen zeitgenössischen Gesellschaft und Klasse. Die mentale und narrative Transferleistung, die Sunjeev Sahota vollbringen musste, ist ungleich größer. Mehar lebt in einem vergangenen Jahrhundert, auf einem anderen Kontinent und in einer gänzlich anderen Gesellschaftsordnung als wir und als ihr Autor, und doch tritt sie uns aus diesem Buch lebendig entgegen.
Eine bis eben noch völlig fremde Art zu leben, eine ganz andere Zeit – sie werden geradezu begreif- und spürbar. Das ist eine Sache, die der Literatur wohl besser gelingt als jeder anderen Kunst. Aber eben nur, wenn einer wirklich erzählen kann.